Unsere Kirchenglocken
Aus dem Nachlaß von Wilhelm Probst, + 1957, Bad Westernkotten
[Erstabdruck: Probst, Wilhelm, Unsere Kirchenglocken, in: Vertell mui watt, Ausgabe 66 (1998)]
„Der Krieg ist schlimm und frißt viel‘ Leut,
samt Vieh und Häusern weit und breit.“
So haben wir in einem Gedicht gelernt. Daß dieses wahr ist, haben wir selbst gründlich erfahren. Er holt sogar sogar die geweihten Kirchenglocken. Das Metall soll verwendet werden, um Not und Tod, Verderben und Vernichtung zu bringen. Im ersten Weltkriege griff der Krieg auch nach unseren Glocken. – Unzählige mal hatten sie unsere Sonn- und Feiertage verherrlichen helfen, uns ans Beten erinnert, zur Kirche gerufen. Wie warm wurde es uns ums Herz, wenn sie alle zusammen unseren unvergleichlich schönen Lobetag einläuteten und die Böller dabei dröhnten. Manchem haben sie das Grablied gesungen. Nun sollten von unseren drei Glocken zwei dem unerbittlichen Gesetz des Krieges geopfert werden. Früher haben sie bei Feuersnot laut Hilfe herbeigerufen, und nun konnte ihnen im ganzen Dorfe niemand helfen. Doch ehe die Glocken Abschied von uns nahmen, wollten sie uns Lebewohl sagen. An einem trüben Mittag im September 1918 haben sie alle zusammen ihr Abschiedslied gesungen. Die Kinder und die großen Leute standen in den Haustüren oder auf den Dorfstraßen und hörten den letzten Ruf der Heimatglocken. Ganz wehmütig wurde es da manchem ums Herz. Ich aber bin auf den Kirchturm gestiegen, in die Glockenstube, wo die Glocken mehrere Menschenalter gewohnt hatten, und da haben mir die Glocken ihre Geschichte erzählt. – Zum steten Gedächtnis will ich sie hier niederschreiben.
In dick aufliegenden Buchstaben trug die dickste Glocke die Aufschrift:
Jederzeit bekenn‘ ich frei,
Stucky aus Saarburg gos mich neu.
Die Glockengießer waren damals vielfach Wanderglockengießer, also wandernde Handwerksmeister, wie die Kupferschmiede und Zinngießer in früheren Zeiten In einem großen Wagen nahmen sie ihr Handwerksgeschirr, ihre Familie, ihre Habseligkeiten mit. Wo man ihrer Arbeit, ihrer Kunst bedurfte, wurde an Ort und Stelle eine Glocke gegossen oder umgegossen. Solch ein wandernder Glockengießer wird wohl auch Meister Stucky gewesen sein.
Aber noch mehr war auf der Glocke zu lesen. Hier steht’s:
traDor eVangeLICo CaMpana renata IoannI patrono antIqVo sIt sIne Fine.
Das heißt: Ich werde Johannes, dem Evangelisten uund alten Patron geweiht, nachdem ich wieder hergestellt bin. Sie sei ohne Ende (freie Übersetzung). Die Buchstaben waren alle Großbuchstaben, aber einige von ihnen [im vorstehenden Text als Großbuchstaben gesetzt] überragten die anderen an Größe. Aha, da hatte Meister Stucky ein Meisterstück gemacht. Etwas Ähnliches hatte ich schon öfters gesehen. Der lateinische Spruch war ein Zahlenspruch, das heißt, in ihm war eine Jahreszahl versteckt. Chronogramm nennen das die Gelehrten. Wie ist denn das damit? Die ihre Brüder überragenden Buchstaben gelten als lateinische Ziffern. Wenn man diese zusammenzählt, nennt die Summe das Jahr, in dem das Werk gemacht ist. Ich zählte also schnell zusammen und erhielt… Na, machen wir’s mal selbst: 500+5+50+1+100+1000+1+1+1+5+1+1+1=1767. Nun wußte ich es, die Glocke war vor 151 Jahren neugegossen [Hinweis darauf, daß Probst diesen Text 1918 geschrieben hat; Anmerkung Wolfgang Marcus].
Aber da war noch ein lateinischer Spruch auf der Glocke zu lesen. Er hieß:
sonans hostes repeLLas LongIVs paCeM
qVe Dones protInuVs
MDCCLXXVII im Augusto.
Auch in diesem Spruch steckt ein Chronogramm. Wir finden es jetzt selbst: 50+50+50+1+100+1000+5+500+1+5=1767. Wieder dieselbe Jahreszahl. In zwei verschiedenen Sprüchen sollte doch auch ein Sinn sein; die Worte mußten zu dem Werk passen. Wie heißen denn die Worte in unserer Sprache? Hier die Übersetzung: „Mit deinem Klange sollst du die Feinde auf lange Zeit vertreiben und weiterhin den Frieden schenken.“
Der siebenjährige Krieg war kaum vorbei. In dreizehn Jahren hatten die Preußen drei Kriege geführt, und wir glauben es gern, daß das arme Volk den Krieg gründlich haßte und den Frieden für alle Zeit wünschte. Solche Zahlensprüche ausdenken ist gewiß nicht leicht gewesen. Vielleicht hat dem Meister Stucky irgendein Schlauer aus dem Dorfe geholfen. Studierte Leute hat’s damals oft viele im dorfe gegeben. Ob der Pastor von Erwitte dem Glockengießermeister behilflich gewesen ist? Er war ja auch der Pfarrer unseres Dorfes.
Diese Johannesglocke, so war sie bei ihrer Taufe genannt worden, war im Krieg, im Jahre 1918, wegen ihres ehrfürchtigen Alters, wegen ihres Klanges und wegen der feinen Zahlensprüche vor dem Einschmelzen bewahrt geblieben. So hat der Sachverständige für die Begutachtung von Kirchenglocken, Professor Dr. Geisberg in Münster, damals entschieden. Die Johannes-Glocke war die größte unserer Kirchenglocken, sie wog 460 Pfund.
Was ich über die beiden anderen Glocken weiß, ist kurz gesagt. Die zweitgrößte war die Marienglocke. Sie trug die Aufschrift:
Sancta Maria, ora pro nobis.
Petit et Frt.Edelbrock me fecerunt 1841
(Heilige Maria, bitte für uns. Petit und Gebrüder Edelbrock haben mich 1841 gemacht.)
Die kleinste Glocke trug das Dorfwappen, die Wolfsangel, und die Inschrift:
„Gegossen für die Gemeinde Westernkotten von Petit & Gebr. Edelbrock 1872″.