1954-1994: 40 Jahre Fredegrassiedlung in Bad Westernkotten
von Josef Regenbrecht und Wolfgang Marcus
[aus: Aus Kuotten düt und dat 1994, Nr. 72-75]
Am Samstag, dem 6. August 1994, feierten die Bewohner des Fredegrases mit vielen Gästen das 40jährige Bestehen ihrer Siedlung. Nachfolgend die ein wenig überarbeitete Festschrift.
I. Das Fredegras in der Zeit vor der Bebauung
Als „Fredegras“ wurde seit alter Zeit in der Gemeinde die Fläche bezeichnet, die sich nördlich der heutigen Antoniusstraße im Winkel zwischen dem Osterbach und der Gieseler erstreckt. Dies ist sehr schön aus der nachfolgenden Karte zu ersehen, die aus dem Jahre 1828 stammt und Teil des sog. Urkatasters ist.
Aus der Karte geht auch hervor, dass zur damaligen Zeit die ganze Fläche der Gemeinde Westernkotten gehörte und nach damaligen Maßen 40 Morgen und 76 Quadratruthen Fläche umfasste. Der seinerzeit übliche Magdeburger Morgen umfasste 2553,2 Quadratmeter, eine Quadratruthe 14,183 qm. Demnach hatte das Fredegras eine Fläche von 103 206 qm oder 10,32 Hektar.
Mit der Bebauung der Flächen seit 1954 verschob sich die Bedeutung des Begriffes „Fredegras“: Zur Fredegrassiedlung zählen sich heute nur die Anwohner der Fredegrasstraße und ihrer Nebenstraßen (vgl.: „Ich wohne im Fredegras“ oder „Ich komme aus dem Fredegras“), nicht aber die Anwohner der (nördlichen) Osterbachstraße. Der Nordteil der Osterbachstraße wird deshalb im Folgenden auch nicht näher berücksichtigt.
Die Bedeutung des Namens „Fredegras“ ist nicht ganz eindeutig: Das Heimatbuch von 1958 führt aus, dass häufig ein von der Gemeindeweide abgeteilter Platz für kranke Tiere so bezeichnet wurde. Auch die Deutung: ursprünglich „freies“ Gras, also Gemeindewiesen, die von jedermann zu nutzen waren, findet sich dort.
Wir halten beide Deutungen nicht für zutreffend. Aus einem Herkunftswörterbuch [Duden Bd.7, Mannheim 1963, S.186] lässt sich ermitteln, dass das Wort „Friede“, vom Mittelhochdeutschen „vride“ abgeleitet, auch im Sinne von einfrieden=umzäunen=Schutz verschaffen gebraucht wurde. Da – wie weiter unten noch gezeigt wird – das Fredegras Gartenland war und die südlich angrenzenden Flächen Weiden der Gemeinde waren, musste das Fredegras „eingefriedigt“ werden, damit das oft frei weidende Vieh von Süden nicht in die Gärten eindrang und alles beschädigte.
Das Fredegras wurde über viele Jahrzehnte und Jahrhunderte in Form einzelner Gartenparzellen von der Gemeinde an verschiedene Gemeindemitglieder verpachtet. Der älteste Beleg dafür ist ein Inventarverzeichnis aus dem Jahre 1835 [Nachlass Eickmann Nr. 38, vgl. das Heimatbuch von 1987, S.164-168]. Danach ist eine Verpachtung jeweils für 5 Jahre nachzuweisen, in diesem Fall von 1830 bis 1835. Das Pachtgeld musste jeweils „pro petro“, also am Namensfest des Hl. Petrus, dem 29. Juni, bezahlt werden. 1835 kassierte die Gemeinde aus der Verpachtung der Fredegrasgärten und einiger weiterer auf dem Schäferkamp immerhin 210 Reichstaler und 11 Silbergroschen, das war etwa ein Fünftel der gesamten Einnahmen der Gemeinde damals. [ebd. S. 166]
Aus einer topographischen Karte aus dem Jahre 1839 geht hervor, dass das Fredegras unmittelbar südlich der heutigen Antoniusstraße in das Feuchtgebiet des „Westernkottener Bruch“ überging. Dieses Gebiet, mit dem Muckenbruch als tiefster und feuchtester Stelle, gehörte auch der Gemeinde, wurde aber im Gegensatz zum Fredegras nur weidewirtschaftlich genutzt.
Dieser unmittelbare Übergang sowie die dorfnahe Randlage des Fredegrases gehen auch sehr deutlich aus einer Karte hervor, die etwa in der 2. Hälfte des Jahrhunderts gefertigt wurde [Archiv des Heimatvereins]
In den Protokollbüchern der Gemeindeversammlung [im Stadtarchiv Erwitte] finden sich häufiger Angaben zur Verpachtung der Fredegrasgärten. Beispielhaft soll hier aus der Sitzung vom 4. April 1876 zitiert werden [nach Heimatbuch v.1987, S.176]:
„Der Gemeindevorsteher legte das Verpachtungsprotokoll bezüglich der Fredegrasgärten für den Zeitraum Martini 1875 bis Martini 1880 vor. Die Verpachtung wurde mit Bezug auf 11 des Verpachtungsprotokolls mit der Maßgabe genehmigt, dass die Gärten, von denen die Pachtbeiträge pro Martini 1875 ganz oder teilweise rückständig seien, anderweitig zur öffentlichen Verpachtung ausgesetzt werden, unter der Bedingung, dass Pächter, die die Rückstände nachweislich nicht bezahlt haben, nicht zu den Bietern zugelassen werden.“
II. Planung der heutigen Fredegrassiedlung
„Da Westernkotten im Jahre 1948 wegen der vielen Flüchtlinge und Evakuierten vorübergehend die Einwohnerzahl von 2000 erreichte, war die Wohnungsnot bis Mitte der 50er Jahre besonders groß. Schon im März 1949 befasste sich die Gemeindevertretung mit der Ausweisung von neuem Siedlungsgelände. „[Heimatbuch 1987, S.259]
Nachdem zunächst das Siedlungsgelände „Auf der Brede“ ab 1952 einer Bebauung zugeführt wurde, stellten die Vertreter der politischen Gemeinde auch Überlegungen an, das Fredegras als Baugelände auszuweisen, um einer breiten Volksmasse die Möglichkeit zur Schaffung eines Eigenheimes zu geben. Eine ganze Reihe von Einwohnern aus Westernkotten hatte großes Interesse, sich dort ein Eigenheim zu errichten. Aus dem Text des Protokolls der Sitzung der Gemeindevertretung vom 27. 5. 1952 ist zu entnehmen, dass sich schon damals ein Einwohner, Josef Franke, um die Bereitstellung eines Bauplatzes im Fredegras bemühte.
Am 24. April 1952 beschloss der Gemeinderat Westernkotten unter dem Vorsitz von Bürgermeister Aloys Merschmann dann unter Punkt 1 der Tagesordnung „Festlegung des Bebauungs- und Wirtschaftsplanes der Gemeinde Westernkotten für das Fredegras“ folgendes:
„Der Amtsdirektor bezog sich auf einen Beschluss des Rates vom 12. Februar 1952 und legte den endgültigen, im Einvernehmen mit der Landesplanungsstelle Arnsberg aufgestellten Entwurf über den Teilbebauungsplan für das Fredegras zur Kenntnis und Beschlussfassung vor. Der Amtsbaumeister erläuterte den Plan im Einzelnen. Hierauf fand eine eingehende Aussprache statt, in der die Zweckmäßigkeit der Einteilung der Bauzone und des an der Gieseler vorgesehenen Grüngürtels anerkannt wurde. Sodann wurde einstimmig beschlossen, den Teilbebauungs- und Ausbauplan der Gemeinde Westernkotten für das Fredegras festzusetzen. Dieser Plan wurde gleichzeitig als Leitplan festgestellt für die bauliche Gestaltung des Fredegrases. Das Bebauungs- und Aufbaugebiet wird begrenzt im Westen vom Osterbach, im Norden und Nordosten vom Gieselerbach, im Osten und Süden vom Antoniusplatz und der Straße ins Muckenbruch.“
Zu Punkt 1 b ist in diesem Protokoll zu lesen:
„Im Hinblick auf die vorliegenden Anträge auf Zuweisung von Baugrundstücken wurde beschlossen, die Bebauung im Anschluss an die schon aufstehenden Häuser von Nordwesten her zu beginnen.“
In den nun folgenden Sitzungen der Gemeindevertretung wurde mehrfach auf das Problem der Wohnungsnot in Westernkotten hingewiesen und der Verkauf von Baugrundstücken im Fredegras gefordert.
Um den in sehr beengten Verhältnissen wohnenden Ostvertriebenen zu helfen, hatte die Bundesregierung schlossen, günstige Finanzierungsmöglichkeiten für diesen Bevölkerungsteil zu schaffen. Für die vertriebenen Bauern sollten Nebenerwerbssiedlungen errichtet werden. Der Gemeinderat beschloss auf Vorschlag von Bürgermeister Aloys Merschmann am 2. Februar 1953, 10 Grundstücke für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen. In der Gemeinderatssitzung am . Juni 1953 wurde dann der neue Katasterplan für die einzelnen Baugrundstücke genehmigt. Darin war vorsehen, einen Bauplatz an Frau Kroker (bisher Behelfsheim), 8 Grundstücke zur Errichtung von Nebenerwerbstellen und 41 weitere Bauplätze an sonstige Siedlerwerber aus der Gemeinde Westernkotten zur Verfügung zu stellen. Die Baugrundstücke sollten zu einem Preis von 1 DM je Quadratmeter veräußert werden. Die Kaufverträge sollten jeweils einzeln verfasst werden. Für den Verkauf der 8 Grundstücke an die Deutsche Bauernsiedlung zur Errichtung von Nebenerwerbsstellen sollte der Kaufvertrag sofort abgeschlossen werden.
In der Gemeinderatssitzung am 5.8.1953 wurde über die Bereitstellung von 5 weiteren Bauplätzen an die Deutsche Bauernsiedlung verhandelt. In dieser Sitzung wurde ebenfalls der Verkauf der ersten Baugrundstücke an Einzelbewerber aus Westernkotten beschlossen. Als besondere Bestimmung in den Kaufverträgen legte man fest, dass als Käufer der Grundstücke und Mieter der Einliegerwohnungen nur in Westernkotten wohnhafte Bürger in Frage kamen.
So wurde das Gelände „Fredegras“ in den kommenden Jahren eine der größten Baustellen, die es jemals in Bad Westernkotten gegeben hat.
Viele Bewohner haben ihre Häuser zum großen Teil in Eigenleistung errichtet. Da wurden in Nachbarschaftshilfe zuerst die Baugruben für die Keller ausgehoben. Alles natürlich in Handarbeit mit Schippe und Schubkarre. Auch Beton und Mauerkalk wurden zum Teil mit der Hand gemischt. Hier und da waren auch schon eine Mischmaschine und ein Aufzug in Betrieb.
Die Straßenzüge waren festgelegt. Die Kanalisation für den Abfluss des Schmutz- und Regenwassers wurde im Bereich der Straßenzüge verlegt. Es gab damals noch keine zentrale Kläranlage. Das Schmutzwasser musste auf jedem Hausgrundstück in einer kleinen Drei-Kammer-Kläranlage gereinigt werden. Für den Abtransport der festen Klärabfälle musste jeder Hausbesitzer selbst sorgen.
Die Wasserleitungen für die Hausversorgung wurden verlegt. Die Stromversorgung erfolgte durch Hochspannungsleitungen über Holzmasten.
In der Sitzung am 12. November 1954 verhandelte die Gemeindevertretung über die Straßennamen für das Siedlungsgebiet „Fredegras“. Mehrheitlich wurden folgende Namen festgelegt:
– „Für die bisherige Straße ‚Am Fredegras‘ zum Muckenbruch hin: Antoniusstraße (in Anlehnung an das Heiligenhäuschen zu Ehren des hl. Antonius von Padua).
– für die Straße parallel zur Osterbachstraße und zum Osterbach: Fredegrasstraße (benannt nach dem alten Flurnamen)
– für die erste Nebenstraße: Eichendorffstraße (benannt nach Joseph Freiherr von Eichendorff, dem großen schlesischen Lyriker und Erzähler).
– für die zweite Nebenstraße Hans-Böckler-Straße [Hans Böckler, *1875, gest. 16. 2. 1951 in Düsseldorf. dt. Gewerkschafter u. SPD-Politiker; organisierte nach 1945 den Wiederaufbau der Gewerkschaften und deren einheitliche Zusammenfassung im DGB, dessen 1. Vors. er 1949-51 war].
– für die dritte Nebenstraße: Am Grüngürtel. (Der Straßenname wurde gewählt, da die ganze Siedlung durch einen Grüngürtel zur Gieseler abgeschirmt ist.)“
In der darauf folgenden Sitzung wurde die Benennung ‚Hans-Böckler-Straße‘ vom damaligen Bürgermeister Josef Westerfeld beanstandet. In einer erneuten Abstimmung einigte sich der Gemeinderat auf:
– Hedwigstraße (die heilige Hedwig ist die Patronin von Schlesien).
In den folgenden Gemeinderatssitzungen wurden weitere Bauplätze an Bauwillige zugeteilt. Trotz aller persönlichen Anstrengungen der Siedler gab es auch nicht unerhebliche Schwierigkeiten. So hatten die zuständigen Behörden bei der Bauausführung der Dachhöhe und somit dem Ausbau des Dachgeschosses große Bedenken. Ebenso gingen die Verlegung der Versorgungsleitungen und die Errichtung der Baustraßen nur sehr langsam voran.
Im Frühjahr 1955 waren die Zufahrtswege zeitweise in Schlammstraßen verwandelt.
Aber all diese Schwierigkeiten konnten die Siedler nicht von ihren Bauvorhaben abhalten. Mit Zähigkeit und Ausdauer gingen alle weiter ans Werk.
In der Gemeinderatssitzung am 21. August 1956 wurde der letzte Bauplatz im Siedlungsgelände „Fredegras“ verkauft. Gemäß Ratsbeschluss vom 6. Februar 1957 wurde auf Vorschlag des Amtes für Denkmalpflege Meschede die Anlage eines Grünreifens in 15 Meter Breite entlang des südlichen Ufers des Gieselerbaches in Auftrag gegeben.
Die Errichtung einer Kläranlage für die gesamte Kanalisation in Bad Westernkotten und somit auch für die Fredegrassiedlung beschloss die Gemeindevertretung am 4. Nov. 1957. Mit dem Ausbau der Straßen nach Fertigstellung der Häuser wurde Anfang des Jahres 1958 begonnen. Bis dahin waren nur die provisorischen Baustraßen als Zuwegung zu den Häusern vorhanden. Das Schmutz- und Regenwasser wurde in einem Mischwasser-Kanalsystem dem Osterbach zugeführt. Nach Fertigstellung der Kläranlage für ganz Bad Westernkotten wurde der Abwasserkanal getrennt. Das Regenwasser fließt weiter durch die alten vorhandenen Leitungen in den Osterbach. Für den Abfluss des Schmutzwassers bis zur neuen Kläranlage wurde eine ganz neue Kanalanlage verlegt. Durch alle Straßen wurden nochmals tiefe Gräben gezogen. Nach dem Einbau der Schmutzwasserkanäle wurden auch die Straßen in den heutigen Zustand erneuert.
IV. Zur Siedlungsentwicklung bis heute
Nun, nach der Fertigstellung aller Maßnahmen für die so genannte Daseinsversorgung, konnten die Siedler zur Verschönerung der Grundstücke ihre Häuser und besonders die Vorgärten mit Hecken, Blumen und Buschwerk be- und umpflanzen. Und nach einigen Jahren war die Fredegrassiedlung ein grüner Ortsteil von Bad Westernkotten geworden. Fast alle Siedlungshäuser hatten auch einen Stallanbau für die Schweine- und Kleintierhaltung. Da gab es Schweine, Hühner, Kaninchen und manches andere Haustier. Im Winter wurde das Schwein geschlachtet. Es war immer ein kleines Fest, wenn Alt-Fleischermeister Kurt Flöter oder einer der Hausschlächter aus dem Dorf ein Tier geschlachtet hatte und die frische Kochwurst gekostet wurde. Später hat Karl Flöter dieses Handwerk weiter ausgeübt. Dabei wurde dann so manches Schnäpschen in guter Gesellschaft getrunken. Doch die Zeit des Wirtschaftswunders ging auch bei uns nicht spurlos vorüber. Die Kleintierhaltung wurde mehr und mehr ganz eingestellt, neue Ideen in die Tat umgesetzt. Die erste Generation der Siedler wurde älter. Eine neue, junge Generation wuchs heran. In manchem Haus wurde es zu eng. Da musste Platz für den Familienzuwachs geschaffen werden. Anbauten an die vorhandenen Häuser entstanden. Innerhalb der Häuser wurde umgebaut. Aus den Stallgebäuden wurden Wohnungen errichtet. Durch Heirat und Umzug sind neue, wieder andere Menschen zu uns gekommen. So hat sich im Laufe der Jahre manches verändert und ist schöner geworden. Festzustellen ist jedoch, dass alle Siedler ihre Häuser und Grundstücke in einem sehr guten Zustand erhalten. Ebenso herrscht unter den hier wohnenden Menschen ein sehr gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Die gegenseitige Hilfsbereitschaft ist gut. Und die Fredegrassiedlung hat sich sehr gut in das allgemeine Ortsbild unseres Badeortes „Bad Westernkotten“ eingefügt.