Von Ingeborg Meyer-Sickendiek; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.3.1992
Bei feuchtkalter Witterung verlieren die Umrisse der Badegäste unter dem aufsteigenden Dunst, der auch ihre Stimmen dämpft, an Schärfe. Gleichwohl kann man im Näherkommen von ihren entspannten Gesichtern ablesen, wie sie, bis zum Kinn in der 32 Grad warmen eisen- und kohlensäurehaltigen Sole von Bad Westernkotten, beim Anprall der kalten Luft von angenehmen Schauern durchrieselt werden.
Mit solchen lustvollen Erfahrungen haben die Einwohner als ehemalige Sälzer noch Schwierigkeiten, obwohl sich Westernkotten, wie andere Solequellen Ostwestfalens auch, inzwischen zu einem modernen Heilbad entwickelt hat. Bis zum Jahre 1832, als die erste private Solebadeanstalt mit drei Badezellen eingerichtet wurde, bildete Salz die Lebensgrundlage der Menschen hier, Sie bewohnten, laut Tacitus, keine Städte, nicht einmal zusammenhängende Siedlungen. „Vielmehr hausen sie einzeln und gesondert, gerade, wie ein Quell, eine Fläche, ein Gehölz ihnen zusagt. Salzquellen gelten den Germanen als heilige Stätten. Man betrachtet sie als ein Geschenk der Götter, sie kommen dem Himmel am nächsten, und die Gebete der Menschen werden hier zuerst erhört.“
Nicht jeder, der in einem unaufhörlich fließenden Verkehrsstrom die Bundesstraße 1 befährt, macht sich klar, dass das historische Band des Hellweges, dieser-vorgeschichtlichen Verbindung zwischen Rhein und Weser, unter ihm hinwegrollt. Auf einer Teilstrecke mit dem Ruhr-Schnellweg identisch, handelt es sich um eine der ältesten Heer- und Handelsstraßen, die mit der einsetzenden Mobilität der Massen zu beiden Seiten kahl gehalten wurde.
Haben auch Generationen von Etymologen an dem Wort „Hellweg“ gerätselt, bietet sich eine Ableitung von Hall, was immer etwas mit Salz zu tun hat, als die plausibelste Erklärung an. Dazu kommt, dass eine nachweisbare frühe Besiedelung in einer weder klimatisch noch landschaftlich besonders begünstigten Gegend einen längst vorhandenen Verkehrsweg voraussetzt. Er muss antiken Völkerschaften wie den Kimbern und Teutonen auf ihrer Wanderung längst bekannt gewesen sein, bevor die Römer ihn bei ihren Vorstößen gegen die eingesessenen germanischen Stämme benutzten: „Gestalten von hohem, kräftigem Wuchs“, heißt es in den Annalen des Tacitus, mit „muskulösen Gliedern, stolzer, aufrechter Haltung, gesunder Gesichtsfarbe, rotblond und“, wie er mit einem furchtsamen Seitenblick auf die Cherusker feststellt, „von kriegerischem Wesen.“
Zu dieser Personenbeschreibung, die auf kultivierte Römer ziemlich exotisch gewirkt haben muss, passt auch der Hinweis auf ihre Bekleidung: „Sie hüllen sich in Wolfs-, Bären- oder Schaffelle.“ Rechnet man die Herdstellen hinzu, an denen sie glühende Holzstöße mit Wasser begossen, worauf das Salz als eine feste Masse übrigblieb, ist das Bild des Barbaren vollkommen. Der Menschenschlag ist der gleiche geblieben, auch wenn die Mode ersichtlich gewechselt hat und die Abhängigkeit vom Salz in dem Maße zurückgegangen ist, wie die Sole als heilkräftiges Element im balneologischen Boom Karriere machte. Nimmt man sich im modernen Badebetrieb die Zeit für einen Einblick in die Westernkottener Kopfschatzregister des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, treten die Sälzer als eine streng hierarchisch gegliederte Zunft mit eigenen Satzungen hervor. Danach konnte nur „Söder“ oder „Sälzer“ werden, wer „ehelich geboren, Christ-Katholischen Glaubens, ehrlichen und guten Leymuths, unbescholtenen Wandels und keiner Leibeigenschaft unterworfen‘“ war. Salzvergehen wurden schwer bestraft, und jeder „Pfänner“, der einer „Pfänner-Gemeinschaft“ angehörte, fühlte sich durch seinen Dienst am „weißen Gold“ auch moralisch aufgewertet. Heute sind die Nachkommen dieses erst 1949 aufgelösten Berufsstandes, soweit sie in den Bädern Westernkotten und Sassendorf bei Soest leben, unbekümmerte Teilhaber eines Gesundheitstourismus mit Aufwärtstrend, deren Sälzertraditionen allein, in ihren Straßennamen innerhalb ihrer – fällig sanierten Ortsbilder weiterleben.
Von den in Westernkotten für das Jahr 1312 beurkundeten 92 Salzhäusern sind die meist verschwunden, ebenso die Zehntscheune, das Sudhaus, Hofgebäude aus bodenständigem Fachwerk und das mittelalterliche Rittergut. Ein ehemaliger Salzbrunnen, der Königssood, ist übermauert. Er erinnert an die Zeit, als er zum Königshof Erwitte gehörte, und ist heute mit Westernkotten unter dem gemeinsamen Wappen des Salzhakens vereinigt.
Karl der Große konnte von Glück sagen, dass ihm mit der Unterwerfung und Bekehrung der Sachsen zugleich ein wirtschaftlich hoch entwickeltes Stammesgebiet zufiel. Andererseits muss er sich der Tatsache bewusst gewesen sein, dass die ersten, schon ein Jahrhundert vorher von ehemaliger Bedeutung als fränkisch-karolingische Etappe ins Provinzielle zurückgefallen ist. Auf dem kopfsteingepflasterten Platz zwischen der curia Regia, einem heute von einer Kirchenbehörde benutzten Gebäude des Königshofes, und der St.-Laurentius-Kirche verstellt eine lärmende Jungmännergruppe beim fröhlichen Umtrunk vor einer Kneipe den Zugang zum historischen Ausgangspunkt der vor 1150 Jahren entstandenen Gemeinde. Damals hatte Karl der Große mit einem Jus Regale über das Salz auch sein Besitzrecht über die sächsischen Seelen geltend gemacht.
Inzwischen sind die Zecher immer lauter, ist der Abstand zu Handgreiflichkeiten immer geringer geworden. Bei jedem Schützenfest, so die Pensionswirtin, sei es zu Handgreiflichkeiten zwischen denen von Erwitte und „uns in Westernkotten“ gekommen.
Damit spielt sie, vielleicht unbewusst, auf das rebellische Temperament ihrer von Kaiser Karl mehrfach gezüchtigten sächsischen Vorfahren an. Trotzdem erweiterte Karl die Grenzen des Reiches gerade von hier aus in europäische Dimensionen.
Am Königshof von Erwitte nahmen Heinrich I. 935, Otto II. 974 und 976, sein Sohn Otto III. 989 und Heinrich II. im Jahr 1002 Quartier, In der romanischen Laurentiuskirche, Nachfolgerin der königlichen Johanneskapelle, lebt die Vergangenheit der Urpfarre anhand der Bildwerke lombardischer Steinmetze wieder auf. Einmalig in der deutschen Kirchenarchitektur sind die Pfeilerengel, die, bis zu den Füßen in einem ornamentalisch gefalteten Federkleid, die Jakobsleiter auf- und niedersteigen, wie in Erinnerung an die Weltensäule, die Irminsul der Sachsen.
So nahe war auch Karl noch der religiösen Vorstellungswelt seiner germanischen Stammesverwandten, dass er die Mitwirkung der Götter an dem hydrostatischen Phänomen der Pader, die aus dem Karstgebiet der Paderborner Hochfläche 200 Quellen ins Stadtinnere entlässt, für möglich hielt. Mit 9000 Litern Gesamtausschüttung pro Sekunde wird ganz Paderborn, besonders in der Unterstadt, zu einem einzigen Biotop.
Kraft dieser „wunderbaren‘“ Erscheinung hat es sich im Jahre 799, als Karl mit Papst Leo III. hier das weströmische Kaisertum erneuerte, selbst zum ersten Bischofssitz der Sachsen vorbestimmt.
Hierdurch konnte sich Karl bei seinen Aufenthalten in der Pfalz von „Padrubuna“ ermächtigt fühlen, auf dem erst jüngst ergrabenen Freithron an seiner im Dom aufgegangenen Missionskirche Gericht über abtrünnige Sachsen zu halten und sie kurzerhand vor die Wahl „Taufe oder Schwert“ zu stellen. Schließlich gaben sie nach, nicht zuletzt bezwungen durch die Fülle sakraler Bauwerke und die überlegene spätrömische Kultur, der sie mit ihren robusten Riten nicht gewachsen waren.
Das zweite Wunder neben dem Wassersegen ist die behutsame Wiederherstellung des im Zweiten Weltkrieg zu nahezu 85 Prozent zerstörten historischen Stadtkerns. Lauscht man heute in der als archäologisches Museum und Konzertsaal genutzten Halle des zweigeschossigen Saalbaus der ottonisch-salischen Pfalz einer geistlichen Abendmusik oder vernimmt, im Vorübergehen, aus der 1017 erbauten Bartholomäus-Kapelle den psalmodierenden Gesang einer einzelnen Frauenstimme, liegt eine Partitur abendländischer Kultur offen. In dieser ältesten Hallenkirche nördlich der Alpen vergehen acht Sekunden, bis ein Ton zwischen den Deckenbögen verhallt ist.
Karl der Große ist am Hellweg zwischen Soest und Paderborn lebendiger als in jeder anderen deutschen Landschaft. Hätte er geahnt, dass nur dreißig Kilometer von hier die Salzbrunnen heilende Sole führten und Moorerde aus dem Muckenbruch die Glieder stärkte, wäre im Hinblick auf seine Altersleiden wie Rheuma, Herz, Kreislauf und Atemwege aus dem gemütlichen Familienbad Westernkotten vielleicht ein zweites Aachen geworden.
Wenig später erschien folgender Kommentar von Professor Dr. Paul Leidinger, Warendorf. [Eine genauere Quellenangabe habe ich nicht gefunden. WM]
Hellweg ist nicht Hallweg
‘ In dem Reiseblatt-Beitrag „Salz und Sole am Hellweg‘“ (F.A.Z. vom 5. März) hält Ingeborg Meyer-Sickendiek irrigerweise die Ableitung des Wortes „Hellweg“ „von Hall, was immer etwas mit Salz zu tun hat, als die plausibelste Erklärung“. Sie möchte damit das Rätsel um das Wort von „Generationen von Etymologen“ lösen, übersieht dabei aber nicht nur die längst vollzogene Klärung des Begriffs in Lexika und Handbüchern, sondern auch, dass es in Westfalen und im norddeutschen Raum allgemein zahlreiche „Hellwege“ gegeben hat, die nichts mit Salz zu tun hatten, sondern schlicht Königsstraßen und Heerwege waren, die nach dem Sachsenspiegel in der Breite einer Speerlanze oder eines Heufuderbaumes von Gräben und Zäunen frei zu halten waren. Entsprechend leitet sich „Hellweg“ von Mittelniederdeutsch „helwech‘“ ab, was so viel wie „lichter Weg“ bedeutet. Unter den verschiedenen Hellwegen nahm der sogenannte „Westfälische Hellweg“ zwischen Rhein und Weser — von Duisburg über Dortmund und Soest nach Paderborn und Höxter — als Hauptweg des Raumes und bedeutsames Zwischenstück im kontinentalen Fernstraßennetz seit vorgeschichtlicher, vor allem aber karolingischer Zeit eine so herausragende Stellung ein, dass er — wie die Bergstraße zwischen Darmstadt und Wiesloch am Odenwald unter den verschiedenen Bergstraßen — unter diesem Namen allgemein bekannt und auch zum Namen der beiderseits die Straße begleitenden Landschaft zwischen Ruhr und Lippe wurde.
Professor Dr. Paul Leidinger, Warendorf