1967: Salzfaktor Weierstraß in Westernkotten – Vater eines bedeutenden Mathematikers

Von Dr. Josef Hogrebe (Rüthen); in: Heimatblätter Lippstadt 1967, S. 69

„Zur Theorie der Abelschen Funktionen“. 11. 9. 1853. Saline Westernkotten [1]. Diese Orts- und Zeitangabe hat ein wirklich Großer auf dem Gebiet der Mathematik eigenhändig unter das Manuskript gesetzt. — Es soll natürlich hier nicht der Versuch gemacht werden, den Lesern der „Heimatblätter” die Bedeutung der beiden Mathematiker, des norwegischen Abel (1802—1829) und des deutschen Weierstraß (1815—1897), nahezubringen; es wird lediglich der Frage nachgegangen, wie es dazu kam, dass (das heutige Bad) Westernkotten der Ort der Niederschrift einer solch schwierigen Arbeit wurde.

Von 1848 bis 1856 war Karl Weierstraß Mathematiklehrer am Gymnasium Braunsberg (Westpreußen). 1840 bis 1858 war der Vater, Wilhelm Weierstraß, Salzfaktor, d. h. Salinenverwalter in Westernkotten und wohnte in der sogenannten Salzfaktorei, Hauptstraße 36. Karl pflegte einen großen Teil der Ferien jeweils in Westernkotten zuzubringen.

Der nicht westfälische Name Weierstraß veranlasste eine Untersuchung der Fragen: woher die Weıerstraß stammen und wie kam der Vater des Gelehrten nach Westernkotten.

Dass Karl Weierstraß am 31. Oktober 1815 in Ostenfelde, Kreis Warendorf, geboren wurde, ist bekannt. Eine Anfrage beim katholischen Pfarramt in Ostenfelde, die weiteren Angaben im dortigen Taufbuch betreffend, wurde von dem dortigen Pfarrer entgegenkommenderweise so beantwortet, dass er eine Schrift von Dr. Franz Flaskamp (Wiedenbrück) über die Herkunft und das Leben von Weierstraß zur Verfügung stellte. [2]

Die Flaskampschen Untersuchungen zur Genealogie der Familie Weierstraß, denen hier in den Fakten gefolgt wird, sind so gründlich geführt, dass weitere kaum noch viel Neues bringen dürften. Jedenfalls genügen sie vollauf, um die hier gestellten Fragen zu beantworten.

Die Weierstraß stammen aus dem bergischen Mettmann, wo sie seit etwa 1600 als Handwerker und Händler nachweisbar sind. Ihrem Glauben nach gehörten sie dem reformierten Bekenntnis an. Nun kam ein Teil des östlichen Münsterlandes, darin auch Ostenfelde, 1809 zum Großherzogtum Berg. Als bergischer Beamter kam der Vater Karls nach Ostenfelde; 1815 wurden das Münsterland und das  Paderborner Land im Wiener Frieden preußisch. Im gleichen Jahre ist der Vater als „Sekretär des Bürgermeisters“ in Ostenfelde bekundet. Zwischendurch muss er in Neuhaus gewesen sein. Die Mutter von Karl W., Theodora Vonderforst (1791—1827) war die Tochter des „Fürstbischöfl.-Paderborner Hoflakaien“ „Nikolaus Vonderforst in Neuhaus. Dieser Frau zuliebe trat Wilhelm Weierstraß zum katholischen Glauben über; die Kinder aus dieser Ehe wurden sämtlich katholisch. Weierstraß Vater blieb bis 1826 als Sekretär in Ostenfelde, dann hatte er verschiedene Beamtenstellen bei der Steuerverwaltung und beim Zoll in Gütersloh, Münster und Paderborn inne.

In Paderborn besuchte Karl Weierstraß von 1829 bis 1834 das Gymnasium Theodorianum, an der er 1834 die Reifeprüfung mit bestem Erfolg in allen Fächern ablegte. Dann studierte er, einer Fehlentscheidung seines Vaters gehorchend, erst fast vier Jahre in Bonn Jura. Dies Studium war ihm wesensfremd; seine Neigung gehörte ganz der Mathematik. Schon in Bonn besuchte er mathematische Vorlesungen. Dann betrieb er in Münster von 1838 bis 1841 intensiv das mathematische Studium, vornehmlich bei dem in der Geschichte der mathematischen Forschung nicht unbekannten Prof. Gudermann, der richtungweisend für seine eigene Lebensarbeit wurde.

Nach der bei Gudermann abgelegten Staatsprüfung — Prof. Gudermann hatte seine Staatsarbeit mit höchstem Lobe bewertet und ihm ein glänzendes Gutachten für sein weiteres Wirken in Schule und Universität ausgestellt — verlief das Leben Karl Weierstraß’ sozusagen normal, wenn auch seine Beförderung zum ordentlichen Professor für Mathematik in Berlin erst verhältnismäßig spät, nämlich 1864, erfolgte.

Soweit sich aus den Flaskampschen Forschungen bisher ergibt — vorausgesetzt, dass weitere nichts Neues darüber zutage fördern —, tritt in den beiderseitigen Vorfahrenreihen von Weierstraß keine spezifisch mathematische Begabung auf, wie es auch bei dem „Fürsten der Mathematik“ Gauß der Fall ist. Es gibt hingegen auch ausgesprochene Mathematiker-Familien, wie z. B. die Schweizer Bernoullis, in denen die mathematische Begabung sich in mehreren Generationen zeigt.

Es seien noch einige Worte über Weierstraß als Mathematiker gesagt. Es war alles andere als die elementare Mathematik, womit er sich befasste.  Karl Weierstraß begann mit den schwierigen Rechnungen mit reellwertigen Größen, die am Ende der Integralrechnung stehen, die aber ihre Anwendungen in der Astronomie, theoretischen Physik, Mechanik und Technik finden. Von den reellwertigen Größen schritt er schon bald zu den nichtreellwertigen, den sog. komplexen; sie sind der Gegenstand der Funktionentheorie im engeren Sinne, einem Zweig der Mathematik, der mit zu den schwersten gehört.


[1]  Die Arbeit wurde 1864 in der führenden deutschen mathematischen Zeitschrift abgedruckt. Sie war damals gleich einer Sensation.

[2] Beiden Herren sei für ihre freundlichen Auskünfte hier ausdrücklich gedankt.