Von Wilhelm Probst
Erstabdruck: Heimatblätter Lippstadt 1951 (32. JG), S.62; Neuabdruck: Bad Westernkotten. Ein Heimatbuch, Lippstadt 1958, S. 77 – 80
Da hat man vor Jahren beim Abbruch einer Ziegelei eine sonderbare „Dachpfanne“ gefunden und gesagt: „Die soll unser Lehrer haben, der interessiert sich für solche Sachen“. So bekam ich die Dachpfanne, und ich habe mich sehr darüber gefreut, und ich bin froh, dass ich das zerbrechliche Ding noch habe, trotz Krieg und oftmaligen Beschauens durch Groß und Klein, durch hochgelehrte Männer und schlichte Menschen. Ja, Gelehrten hat die einfache Dachpfanne zu denken gegeben, bis mir ein alter Ziegelbäckermeister aus dem Lipper Lande die Lösung des Rätsels brachte.
Jede Dachpfanne, „Dachziegel“ sagen viele Leute, hat eine Nase. Damit meint man den kurzen Zapfen, mit dem die Pfanne an der Dachlatte hängt. Vor der Nase meiner Pfanne steht die Zahl 1823. Das ist nichts Besonderes. Du denkst dir schon, was das bedeutet. Richtig, im Jahre 1823 ist sie gemacht. Der Ziegelbäcker hat vor dem Brennen der Dachpfanne, als sie noch weich war, diese Zahl hineingekratzt. Alte Dachpfannen mit ihrem Geburtsjahr sind nicht gerade eine Seltenheit. Wenn man Glück hat, kann man auch wohl eine finden, in die außer der Jahreszahl mehrere Namen, die Namen der Ziegelbäcker, die im Betrieb waren, eingeritzt sind. Wenn es bei meiner Dachpfanne nichts anderes wäre, würde ich gar nicht davon erzählen.
In der Dachpfanne sieht man zwei Handabdrücke, nicht nebeneinander, das heißt, die zweite Hand war in den Abdruck der ersten Hand gelegt worden, jedoch so, dass da, wo bei dem einen Abdruck der Daumen lag, bei dem andern der kleine Finger war. Beide Abdrücke stammen von kleinen Händen, nicht von kräftigen Männerfäusten. Was erzählte nun der alte Ziegelbäckermeister?
Die Ziegelbäcker können nur in den frostfreien Monaten arbeiten. Der Meister dingte für diese Zeit außer einheimischen auch fremde Arbeiter, die meistens aus dem Lipper Lande kamen. Wenn die Fremden nicht für sich selbst kochten, waren sie mit der Meisterfamilie eine Tischgemeinschaft. Das gab besonders für die Hausfrau viel zu tun, denn die schwere Arbeit verlangte kräftige und reichliche Mahlzeiten. Sie hatte schon ihre Sorge mit den Ziegelbäckern. Im Fleiß und Können waren die Lipper gesuchte Arbeiter, und am Samstag und Sonntag saß der sauer verdiente Akkordlohn fest im Lederbeutel ihre 11 Lipper“=Lieder und die Musik auf der Ziehharmonika brachten ihnen die Heimat nah, und das Kartenspielen unter der Linde hatte weder Gewinn noch Verlust ergeben, da als Einsatz Bolzenbohnen galten. Darum trugen sie ein nettes Sümmchen heim zu ihrer Familie, wenn sie wieder abzogen, rot und braun gebrannt in der Glut des Sommers. Aber der letzte Arbeitstag schloss mit einem Fest.
Die Meistersfrau gab dann zu spät geernteten Wibbelbohnen durchwachsenen Speck und ein gutes Ende Mettwurst, und ihr Mann zapfte gern mehr als einmal eine Flasche aus dem kleinen Fässchen, von dem er seinen Leuten an jedem Sonnabend ein Glas gönnte. Bevor man sich jedoch an den Tisch setzte, kam der jüngste Ziegelbäcker in die Stube, gefolgt von seinen Arbeitskameraden. Vor Ostern hatte er vielleicht noch in der Schulbank gesessen. Er überreichte dem Meister eine frischgeformte, ungebrannte Dachpfanne, sagte den Ziegler-Gruß und einen Vers, den er von den Alten gelernt hatte. Der Meister legte sie vor seine Frau auf den Tisch, und diese drückte ihre rechte Hand kräftig in den Ziegel, so dass ein tiefer Abdruck zurückblieb. Von der gegenüberliegenden Seite aus tat das gleiche der junge Ziegelbäcker, und seine Kameraden sagten: „Es gilt“. Der Meister antwortete: „Das soll ein Wort sein!“ Dann gab er jedem seiner Leute die Hand. So hatten sich die Ziegler fürs kommende Frühjahr gebunden, und der Meister hatte ihnen neue Arbeit versprochen.
Dieser seit langen Jahren geübte Brauch gab der Dachpfanne mit den Handsiegeln den Wert einer Urkunde, durch die sich die schlichten, ehrlichen Menschen gegenseitig verpflichtet und gebunden fühlten. Der Ziegelmeister war nunmehr im kommenden Jahre nicht um Arbeitshilfe verlegen. Er wusste, dass er sich auf die Männer verlassen konnte und rechnete bestimmt mit ihrem Wiederkommen zur abgemachten Zeit. Die Leute aber wussten, wohin sie gehörten, wenn die schlimmste Frostzeit vorbei war . . . Der älteste Arbeiter setzte die Jahreszahl an die Dachpfanne, denn zu einer Urkunde gehört doch eine Zeitangabe. ·warum wohl des Meisters Frau und nicht er selbst den Dienstvertrag von Seiten der Ziegelei beurkundete?
Nun, die Frau des Dachpfannenbäckermeisters war in dem Arbeitskreis ihres Mannes eine wichtige Persönlichkeit. Das Wohlbefinden der Arbeitsleute, die über ein halbes Jahr fern ihrer Heimat waren und in der Fremde mit der Ziegler-Familie und doch auch für diese werkten, hing viel von ihrer Fürsorge ab, selbst wenn sie mit dem Kochen für sie nichts tun hatte. Bildeten sie aber alle eine Essgemeinschaft, die zu ihrer Küche gehörte, so war es ihr nicht einerlei, ob sie zufriedene Gesichter sah oder nicht, wie es auch ganz gewiss den Ziegelbäckern nicht gleichgültig war, was sie vorgesetzt bekamen. Zu der guten Erledigung der Magenfrage kam noch etwas anderes, das der rechtschaffenen Frau nicht minder wichtig war: Sie fühlte sich dafür verantwortlich, dass auf der Ziegelei ein sittsames und wohlanständiges Benehmen hochgehalten wurde. Ihre Sorge ging nicht zuletzt dahin, dass die Männer, die doch sieben bis acht Monate weit weg von ihrer Familie ihr Brot verdienen mussten, ihren Angehörigen offen und ehrlich in die Augen schauen konnten, wenn sie heimkamen. Sie wusste, dass eine rechtschaffene Frau der beste Zaun ums Haus bleibt. – Warum musste aber der jüngste Ziegler sein Handsiegel in die Dachpfanne setzen? Nun, der Meister und seine Frau und alle Mitarbeiter wollten dadurch zeigen, dass sie mit ihm zufrieden waren und dass sie ihn schon als vollwertigen Arbeitskameraden, als Mann, werteten. Er sollte mit Stolz an seine geleistete Arbeit denken, über seinen Beruf sich freuen und schon früh bei einem alten Ziegler-Brauch mittun. – Der Altgeselle brachte die Dachpfanne als letzte des Jahres in den Ziegeleiofen. Von dort holte der Meister sie, wenn der Ofen von den im Orte ansässigen Arbeitern ausgeräumt wurde, und stellte sie auf das Gesims über der Feuerstelle in der großen Küche zu den anderen aus den Vorjahren, als Zeugen von Treue und Redlichkeit.