2017: Peters, Maria, Ein Zufluchtsort wurde zum Albtraum. Von der Flucht zum Domhof bei Westernkotten, in: HB 2017, S.1ff

Ein Zufluchtsort wurde zum Albtraum – Von der Flucht zum Domhof – in der Gemarkung südlich von Westernkotten — in den letzten Kriegstagen 1945.

Bearbeitet von Maria Peters — Bad Westernkotten — jetzt Weimar

Für viele alteingesessene Einwohner des Dorfes Westernkotten werden die ersten Apriltage des Jahres 1945 noch in trauriger Erinnerung sein. So auch für Anneliese Wieneke – Jahrgang 1934 – deren Familie durch die Kriegsereignisse besonders betroffen war. (Diese Erinnerungen an die Tragödie am Kriegsende auf dem Domhof wurden mir anlässlich der Ausstellung — Erinnern für die Zukunft — im Jahre 2005, von Anneliese Eickenbusch — geb. Wieneke — zur späteren Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.)

„Als in den letzten Kriegstagen das Gerücht kursierte, dass unser Dorf Westernkotten von feindlichen ‚Truppen beschossen und angegriffen würde, entschlossen sich meine Eltern – Wilhelm und Elisabeth Wieneke – Westernkotten zu verlassen.

In der Nacht zum 3. April 1945 war unser Dorf schon vereinzelt von feindlicher Artillerie beschossen worden. Auch wurde erzählt, dass die Amerikaner einige Male mit leichten Panzern bis zum Klossebaum vorgedrungen seien, aber immer wieder zurückwichen.

Am Mittwoch, 3. April 1945, bepackten wir unseren Pferdewagen mit Esswaren, Decken und Zeug – darunter war ein Schinken versteckt – und spannten unsere beiden Pferde davor. Meine Eltern – Wilhelm (52) und Elisabeth (47), mein kleiner Bruder Willi (7) und ich damals 11 Jahre saßen oben auf dem bepackten Fuhrwerk. – Mein älterer 18jähriger Bruder Josef befand sich an der Kriegsfront.

Unsere Nachbarn – Familie Kerkhoff – wollten zunächst auch mit uns das Dorf verlassen. Frau K. befand sich sogar schon auf unserem Fuhrwerk. Aber sie wollten dann doch ihr Haus nicht verlassen und blieben.

Auf unserem Bauernhof Wieneke-Vahlhaus — am Osterbach liegend — blieb unsere Lisa, eine kriegsgefangene Russin, der meine Eltern voll vertrauen konnten – zurück. – Wir wollten zunächst zu unseren Verwandten Schulte-Berndwilm, deren Hof lag am Hellweg zwischen Eikeloh und Erwitte. – Zu dieser Zeit war noch kein Beschuss zu hören. – Auf dem Weg dorthin – auf dem Schäferkamp – sahen wir, dass bei Westerfelds (Ollburen), ein Mistwagen einen Artillerie-Treffer abbekommen hatte und vor sich hin qualmte. – Sonst war unser Dorf noch unbehelligt, aber es waren schon allerhand Westernkötter auf dem Weg Richtung Pöppelsche-Tal und Domhof unterwegs, weil unser Dorf angeblich „bis zum letzten Mann“ verteidigt werden sollte.

Als wir bei Schulte-Berndwilms ankamen, war das Haus voller SS-Soldaten. Ob diese uns gesagt haben, dass unsere Verwandten zum Domhof geflüchtet waren, kann ich nicht mehr sagen. Jedenfalls fuhren wir dann auch zu dem alleinliegenden Hof in der südlichen Feldflur. – Dort lagerten schon viele Westernkötter und auch Erwitter Familien, später wurde von bis zu 200 Menschen gesprochen, die sich in den Scheunen befanden. – Wir bekamen zunächst Unterkunft in der großen Stube des Wohnhauses, wo sich auch unsere Verwandten — Schulte Berndwilm — aufhielten.

Weitere Westernkötter Familien, die sich ebenfalls zum Domhof geflüchtet hatten, waren — soweit ich mich erinnern kann — u.a. Familie Günnewig, unsere Verwandten „Schröers an der Bieke“, Hensen, Joachimsmeiers und Lanhenken aus der Bruchstraße, Adämmers vom Schützenplatz.

Wir Kinder hatten zunächst den Ernst der Lage nicht begriffen. Wir spielten in den Ställen im Stroh und unsere Eltern hielten sich in der großen Wohnstube auf. – Wir und auch wohl die anderen Familien wurden von der Familie Schulte-Domhof gut aufgenommen.

Um den Hof herum war in der folgenden Nacht alles ruhig. Nur am Hellweg sah man Bewegungen mit Fahrzeugen und man hörte ab und zu „Knallereien“.

Am nächsten Morgen, dem 4. April – schlugen dann die ersten Granaten in den nördlichen Hausgarten ein. Jetzt wurden die Menschen natürlich unruhig. – Wir — meine Mutter und ich — standen zunächst in der zum Süden führenden Haustür. Meine Mutter lief dann mit mir über den Hof, in den linken Winkel der Scheune. Dort standen schon mehrere Leute. – Meine Mutter hielt mich an der Hand. Schon kurz darauf schlug eine Granate mit Getöse hinter uns ein. – Meine Mutter fiel um. Es brach Panik aus. Erst später begriffen wir, dass Mutter sofort tot war.

Mehrere Menschen hatten Splitterverletzungen abbekommen. Ich war so aufgeregt, dass ich die tiefe Wunde an meinem Oberschenkel zunächst gar nicht bemerkte.

Als mein Vater uns in der ganzen Aufregung fand, schnappte er sich meinen kleinen Bruder und mich und lief – wohl im Schock – über das Feld in Richtung Pöppelsche-Tal, da jetzt noch mehr Beschuss erwartet wurde. In der Pöppelsche trafen wir auf Johanna Hense, die einen verletzten Soldaten – ich glaube es war ein Österreicher – verband. Mich verband sie dann auch mit einem Handtuch. – Mein Vater nahm einen Stock und band ein weißes Taschentuch daran. So gingen wir wieder auf den Domhof zurück.

Der alte Herr Schulte stand auf dem Hof und rief uns zu: „Macht das weiße Tuch ab!‘ Wir erfuhren dann von ihm, dass unsere Mutter tödlich getroffen wurde.

Die Leute verließen jetzt alle den Domhof und flüchteten in die Umgebung, vor allem in das Tal der Pöppelsche. – Mein Vater und ich legten unsere tote Mutter auf den Pferdewagen und fuhren vom Domhof, durch den Hohlweg, auch in das Pöppelsche-Tal, um von dort nach Eikeloh zu gelangen. – Auf der Oestereidener Straße begegneten wir den ersten Amerikanern. Es war eine kleine Gruppe, die uns zu Fuß entgegenkam. Der erste hielt uns an, er stellte Fragen und mein Vater zeigte auf die auf dem Wagen liegende tote Mutter. In den Fragen ging es darum, ob sich deutsche Soldaten in dem Gelände befinden. Der zweite Amerikaner hatte wohl Mitleid mit uns. Er kam auf den Wagen, drückte uns Kinder an sich und versuchte uns zu trösten. Sie ließen uns dann unbehelligt mit unserem Pferdefuhrwerk weiterfahren.

Da wir Verwandte in Eikeloh – Grewings – hatten, fuhren wir zu ihnen und blieben dort bis zum nächsten Tag.

Am Morgen des 5. April hieß es dann „Westernkotten ist frei‘. Daraufhin fuhren wir mit unserem Pferdewagen durch den Pflaumenweg, über den Schäferkamp, in unser Dorf. – Die Schützenhalle stand weit offen. Ein Mann kam mit einem Sack heraus und warf ihn auf unseren Wagen. Es war ein Sack Grassamen. Später wurde erzählt, dass in der Schützenhalle Vorräte gelagert waren und diese sofort nach der Einnahme Westernkottens angeblich durch Einwohner des Dorfes herausgeholt wurden.

Im Nachhinein erfuhr die Bevölkerung, dass während des Aufenthalts der geflüchteten Menschen aus der Umgebung zum Domhof, am Tage des Beschusses oder vor dem Beschuss, ein SS-Soldat, dem alten Herrn Schulte-Domhof gedroht habe, wenn er die weiße Fahne raushängen würde, der Hof in Schutt und Asche geschossen.

Wurden meine Mutter und das Kind Waltraud Peitz, die auf dem Domhof Zuflucht gesucht hatten, durch deutschen Beschuss aus der Richtung Erwitter Friedhof/Hellweg getötet oder durch Artillerie-Feuer der Amerikaner? Diese Frage ist nicht zuverlässig zu beantworten. – Ich kann nicht sagen, ob die besagte weiße Fahne zu dem Zeitpunkt des Beschusses des Domhofs rausgehängt wurde. – Es wurde allerdings später in Westernkotten erzählt, wegen des Aushängens der Weißen Fahne auf dem Domhof, sei es zu dem Beschuss von Seiten der auf dem Erwitter Friedhof liegenden SS-Einheit aus Österreich gekommen.

Zur Beerdigung meiner Mutter möchte ich noch anfügen: Wegen der noch nicht ganz abgeklungenen Kriegswirren fand die Beerdigung einige Tage später statt. Es war eine ganz erbärmliche Beerdigung — ohne Totenglocke und ohne Beteiligung von Verwandten. Denn es gab keine Möglichkeit, auswärtige Verwandte zu benachrichtigen.

Nur mein Vater, mein kleiner Bruder, Tante Anna Schröer, Tante Gertrud Schulte-Berndwilm und unsere Nachbarin Tante Engelhard nahmen daran teil. – Beerdigt wurde meine Mutter vom damaligen Pastor Friedrich Becker.

Unsere Russin Lisa war noch einige Wochen bei uns im Haus. Durch ihren Schutz wurde bei uns im Haus und Stall nicht geplündert. Eines Tages musste sie sich in Lippstadt melden. Von dort ging es wohl über ein Sammellager in den Osten. Wir haben nie wieder von ihr gehört.“

(Die Plünderungen wurden u.a. von Scharen ausgehungerter, jetzt im Ruhrgebiet frei gewordener Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter aus den Ostgebieten durchgeführt und besonders betroffen war die Landbevölkerung in der hiesigen Hellwegregion. Zusatz: Maria Peters)

Soweit die Erinnerung an das Geschehen vom 4. April 1945 der damals 11jährigen Anneliese Wieneke aus Westernkotten. – Auf dem Domhof – bei dem Beschuss am 4. April 1945, starb ebenfalls die kleine Waltraud Peitz – 2 Tage vor ihrem 7. Geburtstag – Ihre Mutter Anna Peitz war mit ihren Kindern schutzsuchend auf dem Domhof eingetroffen, wo dann das Zweitälteste den Tod fand. – Der Vater befand sich zum Zeitpunkt als Soldat im Kriegsgeschehen.

Der Vermerk des damaligen Standesbeamten Heinrich Eickmann lautet bei beiden Zivilopfern: “Durch Feindeinwirkung gefallen“.

Warum sich die Menschen im Hellwegbereich — in der Nähe zu Erwitte — zunehmend in ihren Dörfern gefährdet fühlten und somit in Panik ihre Wohnorte verließen, können wir erahnen, wenn wir das umfangreiche Werk „DER GROSSE KESSEL.“, eine sehr detaillierte Dokumentation der damaligen Kriegs-Situation, geschrieben vom Erwitter Heimatforscher Willi Mues, lesen. – Aus dem Kapitel „Erste Kämpfe an der nordöstlichen Kesselfront‘“ möchte ich (S. 237) einige präzise Darstellungen der Situation in den ersten Apriltagen 1945 wiedergeben „Die deutschen Truppen in Erwitte — vornehmlich die NS-Kampfgruppe — richteten sich auf eine Verteidigung ein. Der an der Ostseite des Ortes gelegene Friedhof mit seinem Baumbestand und Hecken war einer der Hauptpunkte. Hier standen zwei 3,7-cm-Flakgeschütze und in einer benachbarten Weide ein 8,8-cm Flakgeschütz. – Vom Friedhof aus zog sich – anlehnend an die Reichsstraße 1 – eine Anzahl Einmannlöcher bogenförmig zu den Hohlwegen in der südlichen Feldflur. Eine kleine deutsche Stellung befand sich auch am Südrand des kleinen Wäldchens an der Straße nach Berge. Die deutsche Verteidigung bestand außer der NS-Kampfgruppe aus zwei Kompanien des Panzergrenadierregiments 60 und aus einigen Gruppen des Feldersatzbataillons 146 der 116. Panzerdivision. – Eine Vielzahl von kleinen führerlosen Einheiten, teils schlecht oder kaum bewaffnet, die alle in der Verteidigung mit einbezogen wurden, muss sich hier in unmittelbarer Nähe der Kesselfront gestaut haben.“

Im eigentlichen Dorf Westernkotten waren keine Opfer zu beklagen, aber am 3. April 1945 fiel in der Westernkötter Feldflur am Hellweg, in der Nähe des Erwitter Friedhofs, der Grenadier Johann Frantsich aus Kaiserdorf/Nieder-Donau (Österreich). – Er wurde auf dem Soldatenfriedhof in Westernkotten beerdigt.

Nachdem der amtierende Bürgermeister Heinrich Eickmann gegen Mittag des 4. April 1945 telefonisch von amerikanischer Seite die Order erhalten hatte, zu kapitulieren, ging dieser mit einer Handvoll beherzter Einwohner den Amerikanern entgegen, so blieb Westernkotten von weiteren Opfern verschont.

[Dem Aufsatz sind 5 Fotos beigefügt, u.a. dieser Totenzettel:

Quellen:

  • Anneliese Eickenbusch
  • Heiner Peitz
  • Auszug aus DER GROSSE KESSEL von Willi Mues
  • STAE
  • Foto-Material: Archiv HF Bad Westernkotten
  • Pfarr-Archiv Bad Westernkotten