2014: Kriegsereignisse in Westernkotten Ostern und April 1945

Von Dr. Carl WEICKEN (Bad Westernkotten)

In: Heimatblätter Lippstadt vom 12.4.2014

Vorbemerk: Wie schon von mir in den Heimatblättern des Patriot 2011 unter dem Titel „Königlicher Prinz als Salinenbesitzer“, und 2007 „Krieg und erste Nachkriegswochen in Westernkotten“ berichtet worden ist, wohnte der Direktor der Saline, Carl Weicken, welcher aus Dresden stammte, mit seiner Frau und den Kindern Volker und Hilga, zusammen mit der Familie König und deren Kinder Hans-Leo, Eva-Maria und Dieter in dem betriebseigenen Wohnhaus bei der Saline Westernkotten an der Reichsstraße 55 und erlebten hier das Kriegsgeschehen, den Rückzug der Deutschen, den Sieg der Amerikaner und die Plünderungen der dann befreiten Russen. Die Nachbarschaft der Saline bestand aus dem Bahnhof, Haus Hiltemann, dem Haus Knoche, Haus Deckmann und dem Bauernhof Hötte, zwei Kilometer westlich des Ortes Westernkotten als kleinere Siedlung. Heinrich Knoche.

Nun folgt der detaillierte Bericht des damaligen Zeitzeugen Dr. Carl Weicken:

Westernkotten – ein Ostern und ein April, an den alle denken werden, die die Ereignisse miterlebten. Schon am Charfreitag [!], den 30. März hieß es, dass feindliche Panzer über Brilon nach Paderborn vorgestoßen seien und dass ein Rudel von 40 Panzern sich Erwitte nähere. Eine Stunde später kam ein Anruf, das Rudel sei abgebogen über Geseke nach Paderborn.

Ich nannte diese Mitteilungen „Latrinenparolen“, weil ich mir nach unseren Wehrmachtsberichten eine solche Möglichkeit überhaupt nicht vorstellen konnte. Dann aber setzte Charfreitag Abend ein unheimliches Gefahre ein in Richtung Lippstadt – Auto an Auto, meist mit 2-3 Anhängern oder angehängten Autos, leichte, schwere Lastzüge, Panzer, dazwischen Pferdewagen – alles vollbeladen nicht nur mit Gepäck, sondern auch mit unendlich vielen Soldaten – daneben viele radelnde Soldaten und Fußvolk – eine Heereswalze, die oft überholt wurde von rasenden und großen und kleinen Personenautos.

Den ganzen Charsamstag hielt die Rückwalze an. Der Heeresbericht vom 31. März berichtete dann aber bereits von Kämpfen bei Brilon und südlich Paderborn. In der Nacht von Sonnabend zu Ostersonntag hielt die Rückflut der Armeemasse verstärkt an. Dazu kamen dann ab 21 Uhr furchtbarste Explosionen in Richtung Münster, Gütersloh, von denen wir einen Riesenfeuerschein sahen und dann nach rund 80 Sekunden einen sehr starken Knall mit Lufterschütterung verspürten – Entfernung rund 25 Kilometer. Gegen Ostermorgen kamen diese unheimlichen Erschütterungen näher, bis auf etwa 8 bis 10 Kilometer, sodass wir alle fast aus den Betten flogen. Wir erklärten uns diese furchtbaren Detonationen als unsere Sprengungen. Seit Charfreitag ließ eigentümlicherweise die Tieffliegertätigkeit vollständig nach, obwohl die auf der Straße reichlich Beute gehabt hätten.

Ostermorgen gingen Königs und wir mit allen Kindern um½ 6 Uhr zur Kirche, um dem auferstandenen Heiland unsere Ehrung darzubringen. Als wir um ½ 8 Uhr nach Hause kamen, hatte der Betrieb auf der Reichsstraße 55 inzwischen sehr nachgelassen. Die Kinder suchten noch strahlend und juchend die Ostereier. Am österlich nett geschmückten Tisch nahmen wir gemütlich unser Frühstück ein.

Die wenigen Autos, die dann noch kamen in Richtung Lippstadt, kehrten alle nach kurzer Zeit zurück. Nur eine pferdebespannte Artillerie-Abteilung mit 8 Geschützen, voll beladen mit Gepäck, Soldaten und Zivilpersonen, kehrte nicht zurück, sodass ich annahm, dass sie eingesetzt sein musste. Gegen 11 Uhr sah ich zufällig in Richtung Ehringerfeld Rauchwolken – bei näherer Betrachtung durch das Fernglas sah ich Abschüsse und Einschläge von Panzern, die sich bei Geseke ein Gefecht lieferten, wie dieses nachher auch telefonisch bestätigt wurde. Kurze Zeit hinterher hörten wir auch bei Lippstadt Artilleriefeuer – wir sahen Einschläge – gegen Mittag wurde uns telefonisch bestätigt, dass gegen Mittag übergeben worden sei und hunderte von Panzern in Lippstadt eingefahren seien.

Das Essen schmeckte uns allen nicht recht. Als wir gegen 14 Uhr etwas ruhen wollten, wurde es um das Haus und die Saline lebendig – ein deutscher Stab hatte seinen Funkwagen hinter das Haus gefahren und beratschlagte, Soldaten zogen in die Saline ein, um „volle Deckung zu nehmen“ – ein trauriger Anblick – alle hundsmüde, die meisten humpelnd, verdreckt, hungrig nach der „dünnen Kohlbrühe“, um ein Glas Wasser bettelnd, die Kompanie von einem Feldwebel geführt, vielleicht 30-40 Mann stark! Ihres Bleibens war aber nicht lange, sie zottelten, anders kann man den Marsch nicht bezeichnen, weiter nach Westernkotten. Dann war alles ruhig weit und breit – ein Soldat sagte uns „nach uns kommt nichts mehr, nur noch die Amerikaner“. Gegen 16 Uhr rief auf einmal Volkard: aus Lippstadt heraus kommen einige Panzer in Richtung Weckinghausen. Alle stürzten wir ans Fenster – und dann begann ein Schauspiel, so tragisch es auch war. Unbehelligt fuhren 3/4 schwere und 4/4 mittlere Panzer an das Dorf Weckinghausen heran, nahmen dann Kurs auf die Saline, die Kommandanten oben herausschauend, und bogen etwa 400 m vor der Saline

Bildunterschrift: 2 km vom Ort Westernkotten

Bildunterschrift: Saline und Hof Hötte

über freies Feld in mächtigem Tempo zum Bahnhof Westernkotten. Die drei schweren Panzer sicherten die Straße nach Lippstadt und Erwitte, die vier mittleren fuhren Richtung Westernkotten, vor den Gradierwerken her bis an den Giselerbach. Dort erhielten sie einen Schuss aus Westernkotten von einer dort liegenden Pak, drehten alsdann um und fuhren auf Hötten Hof zu – was dort geschah, folgt später – die drei schweren rasten an der Saline vorbei nach Lippstadt – und nach einer gewissen Weile brausten auch die vier leichten querfeldein zu einer Scheune – wo sie noch einige Stunden sichtbar waren – ohne von irgendeiner deutschen Artillerie beschossen zu werden.

Inzwischen erfuhren wir von Herrn Hötte, dass die Panzer, die bereits drei deutsche Luftwaffensoldaten auf den Panzern hatten, dieselben, die wir morgens auf dem Weg zum Gottesdienst in Richtung Lippstadt schlenkern sahen, bei Hötten gehalten hatten und hereingekommen waren, nach deutschen Soldaten gefragt hätten, zwei dort liegende mitgenommen hätten, nachdem sie ihnen eine Zigarette angeboten hatten, durch alle Zimmer gingen, Schokolade essender Weise, und als sie ein Kruzifix sahen, gesagt hätten, ah, gute Leute, und dann wieder abgezogen seien. – Auf einem Gang durch die Saline stellten Herr König und ich fest, dass mehrere Türen erbrochen waren. Da nach den Deutschen niemand mehr in den Bauten war und König auch alle Türen gut abgeschlossen hatte, musste die Panzerbesatzung die Saline durchsucht und gewaltsam geöffnet haben.

Ostermontag, den 2. April 1945. Als ich morgens ½ 6 Uhr die Läden öffnete, sah ich zwischen uns und dem Bahnhof Westernkotten 6 Güterwagen auf den Gleisen stehen und im Hofe von Knochen Haus, gerade davor, eine Menge ausländischer Arbeiter und Arbeiterinnen. Bei ihrem Abzuge gegen 7 Uhr haben sie alles Mögliche mitgehen lassen. Zur Kirche konnten wir leider in Anbetracht der unklaren Kriegslage und wegen der Horden nicht gehen, wir beteten gemeinsam zu Hause. – Gegen 9 Uhr fuhr ein deutscher Nachrichten-Lkw mit zwei Mann Besatzung von Lippstadt kommend durchs Feld auf die Straße nach Westernkotten zu, bog nach Erwitte ein zum Bahnhof Westernkotten – und in diesem Augenblick fegte ein kleiner amerikanischer offener Pkw mit vorn aufgesetztem Maschinengewehr an der Saline vorbei und feuerte auf den Lkw. Der gab Vollgas, die Amerikaner aber hinter ihm her – und kurze Zeit darauf lag er fest. Die Amerikaner fegten nach Lippstadt zurück.

(Während ich diese am Mittwoch, den 4. April, früh 7 Uhr schreibe, tobt gerade der Kampf um Erwitte mit erheblichem Artillerie- und MG-Feuer.)

Die Chaussee blieb vorerst tot – kein Mensch weit und breit zu sehen als einzelne Ausländer mit weißen Tüchern – zahlreiche Hasen, die sich auf den Feldern tummelten.

Gegen Mittag – wir wollten uns gerade zum Osterschmaus hinsetzen – fielen ganz in unserer Nähe eine Anzahl Gewehrschüsse – hin und zurück – dann ratterten Maschinengewehre dazwischen und schließlich mischte sich ein mehr und mehr Artillerie herein – so dass wir zunächst annahmen, dass es „los gehe“. Alle darauf in den Keller, wo wir unsere Ostermahlzeit einnehmen mussten. Gegen 15 Uhr ebbte das Getöse ab. Meine Frau erfuhr anderen Tags bei Hötten, dass zu der bewussten Zeit am Tage vorher eine Anzahl Amerikaner aus dem Straßengraben kommend plötzlich bei ihnen erschienen seien und das Haus gefüllt hätten. Mit diesen wechselten die deutschen Posten, die in den Baumgruppen zwischen hier und Weckinghausen lagen, das Feuer – ein Aufklärungsgefecht. Die Amerikaner hätten sich alle ordentlich aufgeführt. Nachmittags gingen Herr König und ich einmal in Richtung auf die Saline zu, um nach Steinen für Kellerabdeckung zu suchen, peng, peng, peng schossen doch die deutschen Posten auf uns, wir nahmen an zur Warnung – da konnten wir aber schnell ins Haus zurück!

Nachmittags und abends laufend Artilleriegeplänkel – die Scheune bei Linnhoff brannte – der Transformator wurde getroffen – bums, war auch der Strom fort – und damit Licht, Wasser und die Nachrichten! Die meisten Schüsse lagen in einem Umkreis von 500 bis 1000 m, einige kamen aber auch erheblich uns auf die Pelle, die nächste 10 m von der Saline weg. Zahlreiche Nebelgranaten wurden geschossen. Abends brannte es in Westernkotten. Die Schüsse kamen aus so vielen Richtungen, dass wir nicht erkennen konnten, was deutsche und was amerikanische Einschläge waren.

Bei jedem Einschlag dröhnten und klirrten die Fensterscheiben, so dass besonders Hilga sehr große Angst hatte, bewirkt durch die seelischen Belastungen von den Dresdener Terrorangriffen her. Bei jedem heftigen Schuss zitterte sie und rannte gleich in den Keller. Auch wir Großen gestanden uns ein, dass das Kriegsgeschehen rund um die Saline doch recht unangenehm war – weil man vollständig hilflos dem Geschehen preisgegeben war und weil bei dem Geheule der Granaten doch einige auch mal uns bedenken könnten. Inzwischen war auch das Telefon gestört, so dass wir vor aller Welt vollständig abgeschnitten waren.

Unangenehm war unsere Feststellung, dass der Bahnhof Westernkotten inzwischen von einem deutschen Artillerie-Beobachter als kleiner Stützpunkt ausgebaut worden war – einmal erkannt, werde er sicher Ziel eines Beschusses werden. Ich wollte bei Hilga Parterre auf der Matratze schlafen, aber bei jedem Schuss sprang sie hoch, so dass wir uns in den Keller verzogen – sitzend in Decken eingekuschelt. Wenn es ruhiger wurde, schlief sie so vor Übermüdigkeit ein, ich machte kein Auge zu. Die übrigen Hausbewohner kamen aber auch einige Male herunter, wenn das Schießen zu unheimlich wurde.

Dienstag, den 3. April 1945. Der Vormittag verlief mit gelegentlichem Artillerieschießen auf die Ziele des Vortages verhältnismäßig ruhig. Sollte es die Ruhe vor dem Sturm sein, fragten wir uns! Gegen 14 Uhr sah ich eine große Lkw-Kolonne von Lippstadt nach Bökenförde fahren bei gleichzeitigem Beschuss der Straße nach Westernkotten zur Sicherung in reichlicher Nähe vor uns.

Gegen 17 Uhr bei einem Beobachtungsrundgang mit Fernglas – das Haus König ist ein idealer Beobachtungsstand nach allen Richtungen mit Ausnahme der Chaussee nach Lippstadt – sah ich bei Lippstadt den Panzeraufmarsch für den hervorstehenden Angriff. Das Artilleriefeuer hin und her verstärkte sich – die aufgefahrenen Panzer schossen auf Weckinghausen und Erwitte – gegen 18 Uhr ging eine Schützengruppe vor, weit aufgelöst und bald ging von diesen geworfen eine Nebelgranate nach der anderen los, so dass die Panzer hinter der Nebelwand verschwanden – es regnete und stürmte – dann gegen 18 Uhr 30 hörten wir lebhaftes Motorengeräusch der Panzer und dann heftiges Maschinengewehrfeuer Leuchtspurmunition flog hin und her – und die Panzer schossen wie wild – etwa ¾ Stunde lang dann war Schießen nur noch in Weckinghausen zu hören – dann Abebben des Schlachtlärms – und schließlich Ruhe. Die Amerikaner hatten den Ort erobert. Wie ein Panorama rollte der Angriff vor und ab – wie mancher hat dabei sein Leben lassen müssen – eine Tragik im Zeitalter der Kultur und Vernunft.

Das Essen ohne Lampe in der Dämmerung, teils stehend in der Küche, mundete uns allen nicht nach dem Erlebnis, das uns Deutschen tief in die Seele schnitt. Infolge der Aufregung für Hilga legten wir beide uns gleich in den Keller auf eine Matratze, angezogen. Sie schlief dort auch durch vor Übermüdung, während es mit meiner Ruhe ab 1 Uhr aus war, weil dann das Artillerieduell von Neuem begann. Zweimal fanden sich auch alle Hausbewohner im Keller ein. Erwitte brannte an zwei Stellen, Weckinghausen an einer Stelle.

Mittwoch, den 4. April 1945. Von ½ 7 Uhr an wurde es auf der Straße Lippstadt Weckinghausen wieder lebhaft. Einen Zug deutscher Gefangener beobachteten wir auf dem Wege nach Lippstadt. 8 Uhr gerade im Esszimmer, höre ich am Bahnhof Westernkotten Gewehrschüsse – gleich darauf kam ein amerikanischer Spähwagen, rückwärtsfahrend von dort und mit MG zum Bahnhof schießend am Hause vorbei. Die deutschen Posten gruben sich daraufhin ein – wir erwarteten nun Beschuss dorthin – er kam aber nicht. Stattdessen bekamen aber Hötten wieder Besuch von amerikanischen Panzern mit vollständiger Durchsuchung des Hauses, der sicher dem Bahnhof gelten sollte.

8.30 Uhr verstärkt sich die Ansammlung der Fahrzeuge auf der Weckinghauser Straße. Das Feuer verstärkt sich besonders auf Erwitte, aber auch aus Richtung Geseke auf Erwitte zu, Nebelgranaten in Weckinghausen. Alle Mann in den Keller zum Kaffeetrinken. Das Feuer nimmt mehr und mehr zu – es schießt aber nur noch amerikanische Artillerie. 10.30 Uhr eröffnet eine neue Batterie bei Lippstadt ein heftiges Feuer über uns hinweg auf Stirpe, das bald zu brennen beginnt, Türen und Fenster klirren von dem Gebelle und Geheule des Schlachtenlärms. Aus Weckinghausen beobachten wir, das Rückfluten von zivilen Flüchtlingen in Richtung Lippstadt – gegen 11.30 Uhr kommen eine Anzahl Flüchtlinge aus Weckinghausen hier bei uns an, weinen, sie seien von Haus und Hof gejagt worden mit der Begründung, die Amerikaner hätten keine Munition mehr und müssten noch mal zurückgehen bis Verstärkung heran sei – in zwei Tagen könnten sie wieder kommen.

Während ich das schreibe am 5. 4. vormittags gegen 11 Uhr rollen auf der Straße von Lippstadt nach Erwitte Panzer an Panzer, schwerste Kaliber mit allen Arten von Begleitfahrzeugen vorbei, unaufhörlich, mit einer unbeschreiblich starken Armierung – in fabelhafter Ordnung. Die Gedanken beim Anblick solcher Macht in Vergleich zu dem Erleben unseres Rückzuges in der verflossenen Woche, wie unsere armen Kerls sich fortschleppen mussten mit zusammen gewürfelten Fahrzeugen, zerfetzten Uniformen, ausgehungert und ausgedorrt – und im Vergleich, was uns bisher alles erzählt worden war. Das gleiche Bild auf der anderen Seite des Hauses in Richtung Weckinghausen.

Die Mitteilungen der Flüchtlinge versetzen uns zunächst in große Aufregung. Aber ich kam zu der Überzeugung, dass ein Amerikaner nie ehrlich sagen würde, dass er keine Munition mehr habe und noch einmal zurückgehen müsse, die Angaben sollten sicher etwas Wichtigeres vertuschen, was sich dann durch den geschilderten Aufmarsch bestätigte. Gegen 14 Uhr begann dann ein mächtiges Schießen auf Stirpe und Erwitte – später hörten wir, dass Erwitte um 13 Uhr übergeben worden sei – dann Einnebelung und Angriff – und ab 17 Uhr war Ruhe des Schlachtenlärms. Dann kündigte Motorengetöse das Vorrücken der Riesenkolonnen an und wir konnten beobachten, wie eine Armee modernster, schwerster, verschiedenartigster Panzer, Lkw und Pkw sich zu weiteren Kampfhandlungen nach anderer Stelle sich wälzte – wir vermuteten Soest zur weiteren Einkesselung des Ruhrgebietes. Dann Totenstille.

In Weckinghausen hatte eine Batterie Stellung und Quartier bezogen. Von diesen kamen im Laufe des Abends noch drei Trupps mit Pistolen zur Hauskontrolle – unangenehm – aber eine Kriegsmaßnahme, die auch von uns als Besiegten ertragen und überwunden werden muss. Der Kampf war aus. Das stolze Westfalengelände besiegt durch Übermacht der Waffen – und der Abendhimmel strahlte Sonnenstrahlen, wie sie Caspar David Friedrich nicht hätte schöner malen können.

Das Erleben der 5 Ostertage 1945 von Charfreitag bis zum Mittwoch, den 4. 4., zwingt uns allen großen Dank zum Herrgott auf für den großen Schutz, den er uns allen und der Saline in diesen Tagen angedeihen ließ. Wir waren die Insel ringsumher, um die die Schlacht getobt hat, von der aus wir auch alles beobachten konnten – aber auch alle Schrecknisse und Gefahren und Unannehmlichkeiten miterleben mussten.

Der Kampf war vorbei – aber das Schlimmere sollte kommen, die Invasion der zig-tausend freigelassener russischer Kriegsgefangener aus dem Ruhrgebiet, die am 7./8. April begann, 14 Tage währte, und die auch die Saline erheblich in Mitleidenschaft zog.

Als wir am Weißen Sonntag, den 8. April früh 7 Uhr zur Kirche gehen wollten, kamen von Erwitte her derartige Trupps unheimlicher Typen russischer Kriegsgefangener, die zum Teil auf der Saline zu lagern begannen, dass wir uns nicht aus dem Hause trauten. Immer mehr Russen begannen sich um die Saline herum zu sammeln – sie machten ein Lagerfeuer nach dem andern und schließlich wurde das Gebäude auf der uns unsichtbaren Seite erbrochen.

Das Ganze war ein entsetzlicher Anblick für uns – unbeschreibliche Typen, zerfetzte zerlumpte Kleidungsstücke, dazwischen welche mit funkelnagelneuen SA-Uniformen, Mongolen, Tscherkessen, Kosacken ppp. in einer Primitivität des Lebens und Treibens, dass einem schlecht werden konnte. Im Laufe des Tages nisteten sie sich mehr und mehr in die Saline ein. Gegen die hunderte von Menschen wären wir vollständig machtlos gewesen. Eine furchtbare seelische Belastung legte sich auf uns alle. An Schlaf war nicht zu denken! Wir blieben alle in Anzügen und Kleidern, verrammelten alle Türen und stellten uns überall Verteidigungswerkzeuge – Spaten, Hacken, Stöcke bereit.

Am nächsten und übernächsten Tage verstärkte sich das üble Bild. Wir bemühten uns beim Bürgermeister von Westernkotten um Schutz – dort war aber dasselbe Treiben in Scheunen mit Plünderung von Höfen, Viehschlachtungen, Raub und Diebstahl. Mit dem Bürgermeister ging ich nach Erwitte zum Amt. Auch dort Plünderungen von tausenden von Russen. Amtsbürgermeister Maurer schickte nach Lippstadt zum Kommandanten, weil alle Bürgermeister der Umgebung die gleichen Klagen vorbrachten über tollste Schandtaten. Unsere Stimmung sank auf den Nullpunkt, als wir aus Informationen durch Herrn König aus Lippstadt erfuhren, dass die Amerikaner gar kein Interesse an einer Änderung der Lage bekundeten: Sie blieben voraussichtlich nicht hier – die Deutschen hätten die Russen ins Land geholt, so sollten sie auch selbst mit ihnen fertig werden – die SS habe in Russland nicht anders gehaust – die Deutschen hätten den Krieg überhaupt noch nicht gebührend zu spüren bekommen, jetzt erhielten sie die Strafe dafür, dass sie immer die Störenfriede seien – wir sollten uns bei unserer Regierung bedanken – die Russen hätten wir drei Jahre lang hungern lassen und schlecht behandelt. Jetzt ernteten wir die Strafe dafür – die Amerikaner hätten zu kämpfen und nicht uns zu beschützen – es sei der Nazigeist, der gründlich ausgerottet werden müsse – und dergleichen mehr!!!

Inzwischen wurden die Salzvorräte und Kohlenvorräte geplündert, über Letztere fiel besonders die Lippstädter Vorortbevölkerung her.

Am Mittwoch, den 11. April, war der Höhepunkt der Wanderung. Es war entsetzlich – dabei schönes Wetter. Die Straßen waren nur beherrscht von Russen und amerikanischen Autos. Wir saßen in einem Gefängnis, dauernd auf Beobachtung zum Schutz des Hauses König und seiner Insassen. Die Russen fuhren mit geklauten Rädern, Motorrädern, Pferdewagen, Autos mit Sowjetfahnen – auch das Auto und drei Räder von Herrn König waren geklaut worden. Am Nachmittag kam dann ein unangenehmes Intermezzo, die durchs Fenster ins Haus wollten und dann mit Verstärkung ankamen. Aber schließlich kamen uns einige Stammbesatzungen des Platzes zu Hilfe und ein zufällig auf das Gelände eingefahrenes amerikanisches Personenauto – obwohl der Offizier, mit dem meine Frau sprach, uns Deutschen wenig gut gesonnen war. Ich sprach mit einigen Russen und zeigte ihnen meine russische Korrespondenz, woraufhin ein Russe eine Ansprache an das Volk hielt, in der erklärte, dass ich als Berater in Russland gewesen sei. Wir glauben, dass dies dazu beigetragen hat, dass wir von weiteren Belästigungen verschont geblieben sind, obwohl wir nach wie vor alle Vorsicht walten ließen mit Nachtwachen usw., weil täglich aus allen umliegenden Ortschaften neue große Plünderungen gemeldet wurden.

Von Donnerstag, den 12. 4., war ein Stagnieren zu beobachten – eine „Stammbesetzung“ von etwa 100 Mann blieb nur mit geringem Wechsel. Wir verstärkten unsere Bemühungen, durch die amerikanische Besatzung Schutz zu erhalten, da die Plünderung der Saline und Zerstörung aller hölzener Teile zu Brennzwecken täglich entsetzliche Fortschritte machte. Nach vielfachem Anstehen, besonders infolge des Wechsels des Kommandanten in Lippstadt und Erwitte wurde Herrn König erstmals der baldige Schutz der Saline durch amerikanische Posten zugesagt. Da aber niemand erschien, wurden nach vielem Hin und Her in Erwitte am 19. erneut Posten zugesagt.

Der Zustand war für uns alle eine furchtbare seelische Belastung. Ich habe es als meine Pflicht angesehen, hier an der Betriebsstätte auszuharren und das Schicksal mit den Königs zu teilen. Wo man aus den Fenstern schaute, nur der Anblick der furchtbaren Typen, des Herumlungerns, der Zerstörung, der Versauung in tollster Weise, der scheußlichen Manieren der Völker, in ständiger Sorge um das Haus und seine Inwohner, die in die vier Wände eingekerkert waren, unfähig irgend etwas Positives zu denken oder zu arbeiten, weder geistig noch körperlich – ohne irgendeine Aussicht, wie wir je einmal von diesen Horden überhaupt vor Friedensschluss befreit werden sollten, in Sorgen um die Zukunft

Bildunterschrift: Die Belegschaft der Saline, der Gemeinderat und Westernkötter Handwerker bei einem Betriebsausflug. Sechster von links ist Dr. Carl Weicken.

überhaupt, abgeschnitten von aller Welt durch das Fehlen jeglichen Nachrichtenmittels – und dieses alles schon fast drei Wochen lang. Dazu kein Licht, kein Wasser, immer im alten Anzug, verdreckt, um nicht aufzufallen, wenn man mal zum Wasserholen aus dem Hause gehen musste, unglaubliche Bilder, wenn man aus dem Fenster sah, ein entsetzlicher Gestank und Rauch von den vielen Feuerchen, wenn man mal die Nase aus dem Fenster steckte – dazu in der Natur herrliches Wetter, ein Knospen und Treiben der Saat, ein Grünen, ein Wachsen, ein Singen der Vögel – ein Gegensatz von Natur und Seele, wie ich ihn nie erlebt habe. Das Geschehen hat mich viel nachdenken lassen über den wahren Sinn des Lebens. Verstehen können wir das Erleben nicht. Nur der Glaube, dass der Herrgott auch damit etwas Gutes für uns im Sinn hat, lässt uns das schwere Schicksal ertragen.

Am Freitag, den 20. April, „Führers Geburtstag“, geschah unerwartet die Befreiung. Gegen 14 Uhr erschien ein amerikanisches Auto und setzte zwei Posten ab, die zunächst alle Russen aus den Feldern zurücktrieben, die auf den Feldern nach Weckinghausen sich befanden, Zigaretten rauchend, sich hinsetzend, ganz gemütlich. Dann waren auf einmal vier Posten da, dann kamen von Hötten her weitere zwei und schließlich waren im Ganzen acht Mann da. Spazierten gemächlich umher, zwei gingen mal in den Betrieb mit Zigarette, kamen bald wieder heraus, und auf einmal gegen½ 4 kam mehr und mehr Leben in den ganzen Betrieb – man fing an zu packen, wir trauten unseren Augen kaum – und bald schon begann ein allgemeines Abrücken in Richtung Lippstadt. Ein Russe aus der Garage, der immer ordentlich zu uns gewesen war, kam noch Brot holen und sagte, gestern großer Kommissar da, alle nach Lippstadt, vielleicht bald nach Russland. Das Abrücken hatte auch bei Hötten und Preisters eingesetzt, so dass eine Karawane von Russen in Richtung Lippstadt zog – ab 17 Uhr war das Gelände frei – ein

Bildunterschrift: Frontlagekarte vom 1. April 1945

Wunder für uns – ein Aufatmen – ein Dank zu Gott – und zum hl. Antonius und hl. Josef – denn zu beiden begannen wir am Tage des Höhepunktes des Russenbetriebes eine gemeinsame neuntägige Andacht – und diese Andacht war gerade am Tag der Befreiung zu Ende gegangen. Eine Dankesandacht ließen wir folgen. Das Bild, das sich uns in der Saline bot, war unbeschreiblich. Hierüber berichtet eine gesonderte Niederschrift. Gleich am nächsten Tage nach ruhiger Nacht begannen wir das Aufräumen, alle entsetzt über das Vandalentum und den Barbarismus, aber alle froh, diese Horden erst einmal los zu sein und wieder frei sich bewegen zu können.

Ich habe mich bemüht, diese schwere Zeit geduldig hinzunehmen im Sinne des Gotteswortes – Herr Dein Wille geschehe – und sie zum Besten meiner Seele zu nutzen.

21.04.1945 Carl Weicken

Heute noch lebende Zeitzeugen, die diese Zeit erlebten und sich erinnern können sind: Elfriede Pieper geb. Hiltemann, Bad Westernkotten; Josef Bertelsmeier, Weckinghausen, und der Verfasser, der diesen Bericht nun veröffentlicht: Heinrich Knoche