Von Wolfgang Marcus, Bad Westernkotten
aus: Heimatblätter Lippstadt 2021, Seite 173-176
Die jüdische Gemeinschaft begeht 2021 ein besonderes Jubiläum: Auf eine Anfrage aus Köln erließ der römische Kaiser Konstantin vor 1700 Jahren ein Edikt, wonach Juden in Ämter der Kurie und der Stadtverwaltung berufen werden konnten. Dieses Dekret aus dem Jahr 321 gilt als der älteste Beleg für die Existenz jüdischer Gemeinden auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands.
Den bundesweiten Auftakt des Jubiläumsjahres bildete am 21. Februar 2021 ein Festakt in der Kölner Synagoge. Mit einer Ansprache eröffnete Bundespräsident Steinmeier das Jubiläumsjahr. Steinmeier würdigte die Verdienste des Judentums, das „entscheidend zum Aufbruch Deutschlands in die Moderne beigetragen“ habe. Juden hätten in der Philosophie, in der Kunst, Wissenschaft, Medizin oder auch Wirtschaft „unsere Geschichte mitgeschrieben und -geprägt und unsere Kultur leuchten lassen“, so der Bundespräsident. Dass es nach der Shoah wieder jüdisches Leben in Deutschland gebe, es „sogar neu aufblüht“, sei ein „unermessliches Glück für unser Land“, betonte Steinmeier. Für das Festjahr wünsche er sich ein klares Bekenntnis, dass „Jüdinnen und Juden in Deutschland ein Teil von uns sind“ – sowie ein entschiedenes Entgegentreten denen gegenüber, „die das noch oder wieder infrage stellen“. Die Bundesrepublik sei „nur vollkommen bei sich, wenn Juden sich hier vollkommen zu Hause fühlen“. Das sei der Auftrag aus 1.700 Jahre Geschichte jüdischen Lebens in Deutschland. [zitiert nach: www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/1700-jahre-juedisches-leben-1854114; Zugriff: 27.2.21]
Der folgende Aufsatz soll ein kleiner Beitrag zu dieser Wertschätzung des Judentums in unserem Land sein. [WM]
Literatur zum Thema „Juden in Bad Westernkotten“
Die Geschichte der Juden in Westernkotten, die sich seit dem Jahre 1700 nachweisen lassen, ist mittlerweile schon recht gut aufgearbeitet. Dies zeigt ein Blick auf das Literaturverzeichnis:
- Böckmann, Clemens, Die jüdische Gemeinde in Erwitte. Die Aufarbeitung von fast 300 Jahren jüdischer Geschichte in einer kleinen Stadt, Erwitte 1986
- Heine, Sophia: Meine Erinnerungen an die jüdische Familie Ostheimer, in: JB 2017, S. 189
- Marcus, Wolfgang, Westernkotten in der NS-Zeit 1933-1945; in: Altes Sälzerdorf am Hellweg, Lippstadt 1987, S. 216-245
- Marcus, Wolfgang, Juden in Westernkotten im Jahre 1846, in: JB 2016, S.205
- Peters, Maria, Unsere jüdischen Mitbürger in den Jahren 1902-1938, in: Festschrift 100 Jahre kath. Pfarrgemeinde Bad Westernkotten, Bad Westernkotten 2002, S.125
- Peters, Maria, Die Familie Halle, in: Heimatkalender des Kreises Soest 2003, ebd. S. 72 [jüdische Familie, die drei Generationen in Bad Westernkotten gelebt hat]
- Peters, Maria, Hugo Plaut. Rückbesinnung auf einen jüdischen Mitbürger, in: Heimatblätter 2009, S. 97-102
- Peters, Maria, Die Juden in Westernkotten, in: Historisches Handbuch der jüdischen Gemeinschaften in Westfalen und Lippe. Die Ortschaften und Territorien im heutigen Regierungsbezirk Arnsberg. Hg. von Frank Göttmann, Münster 2016, S.315-318
- Richter, Albert, Erinnerungen an die jüdische Familie Fritz Ostheimer, in: JB 2016, S.192
- Wahle, Walter, Die Juden im Kreis Lippstadt 1846, in: HB 45 (1964), S. 36
Dennoch finden sich immer wieder einzelne Mosaiksteine, die das Bild weiter vervollständigen. Hier sind einige dargelegt, bevor näher auf die Enthüllung der Judengedenktafel im Jahre 1996 eingegangen wird.
Etablierung des Juden Aron Weinberg 1844
Im ersten Protokollbuch des Gemeinderates von Westernkotten unter dem 19.6.1844 ist unter Punkt 7 der Tagesordnung zu lesen: „Der Vorsteher trug vor: Der israelitische Handelsmann Aron Weinberg in Westernkotten habe bei Königlicher Regierung darauf angetragen: ihm das Geleit als Handelsmann in der Gemeinde Westernkotten, sowie die Erlaubniß, die Sara Schiffenberg von Lipperode heirathen zu dürfen, zu ertheilen. Es sei hierüber eine Erklärung abzugeben.“ Der Beschluss des Gemeinderates lautete: „ad 7. Für die Gemeinde Westernkotten ist es durchaus nicht erwünscht, daß handeltreibende Juden aufgenommen würden; es seien außer dem Isaac Eichwald bereits 3 Familien in Westernkotten welche sich vom Handel ernährten und sei keine Aussicht für den Aron Weinberg vorhanden, daß er sich mit demselben Geschäft in der ohnehin armen Gemeinde ernähren werde. Die Gemeinde Versammlung müße daher beantragen, daß dem Aron Weinberg das Geleit und die Verheirathung in Westernkotten von hochlöblicher Regierung versagt werde.“
Wie aus späteren Unterlagen hervorgeht, ist Aron Weinberg aber doch in Westernkotten ansässig geworden und hat auch geheiratet. Das hat sicherlich mit der Liberalisierung der Judenfrage durch die Revolutionsereignisse von 1848 zu tun.
Juden in Westernkotten im Jahre 1846
Die Revolution von 1848 brachte den Juden in Preußen erst die vollen staatsbürgerlichen Rechte, nachdem sie lange vorher darum gekämpft hatten. Damit sie in die bürgerliche Gemeinschaft eingegliedert werden konnten, hatte schon 1845 eine königliche Kabinettsorder verfügt, dass alle Juden einen festen und erblichen bürgerlichen Familiennamen anzunehmen hätten. Darüber wurden Erhebungen angestellt. Im Herzogtum Westfalen war die Namensgebung bereits um 1800 abgeschlossen; infolgedessen finden wir im Kreis Lippstadt nur zwei Beispiele, dass Juden noch keinen festen Namen führten, während es zum Beispiel in der Stadt Soest eine ganze Reihe waren. Ein Beiblatt zum 41. Stück des Regierungs-Amtsblattes 1846 der Regierung in Arnsberg teilt die neu angenommenen oder beibehaltenen Namen der Juden im ganzen Regierungsbezirk mit. Hier die Namen der Juden in Westernkotten, wobei die Liste lediglich die männlichen erwachsenen Juden aufzählt:
- Eichenwald, Isaac
- Halle, Abraham
- Stein, Joseph
- Stein, Levi
- Weinberg, Aron
- Weinberg, Leser.
Weitere Juden für den Bereich der Stadt Erwitte sind für Erwitte selbst, für Horn und für Schmerlecke genannt. [Quelle: Wahle, Walter, Juden im Kreis Lippstadt 1846, in: Heimatblätter 45 (1964), S. 36]
Private jüdische Schule in Westernkotten 1848 – 1850
Im „Historischen Handbuch“ [siehe oben] ist zu lesen: „In den 1840er Jahren ist der Besuch einzelner Kinder in der jüdischen Schule in Geseke belegt. 1848 gestattete die Regierung Arnsberg den Lehrer Jacob Meyerson aus Halle in Westfalen die Eröffnung einer privaten Elementarschule in Westernkotten. Die Regierung betonte aber, dass sich daraus nicht das Recht auf eine dauerhafte Niederlassung ableiten lasse. Der Unterricht sollte wöchentlich 26 Stunden umfassen und durften nicht in hebräischer Sprache erteilt werden. 1849 1850 unterrichtete Meyerson die drei schulpflichtigen Kinder des Ortes, die Schulaufsicht oblag dem Erwitter Pfarrer. Meyerson blieb nicht lange, 1853 gab es in Westernkotten keinen jüdischen Lehrer mehr.“
Durch Briefverkehr des Verfassers mit Paul Uelenbrock aus Bedburg-Hau, der sich ebenfalls der weiteren Aufarbeitung der jüdischen Geschichte widmet [Brief vom 13.12.2020], konnten weitere Details zu dem Lehrer Jacob Meyerson zusammengetragen werden:
- Er war am 2.12.1823 in Halle im Kreis Minden geboren
- Seine Eltern waren der Handelsmann – insbesondere mit Pferden – Nathan Meyerson und Adelheid Stern
- Nathan Meyerson wurde am 8.12.1823 durch Abraham Weinberg aus Westernkotten beschnitten. Das erklärt wohl auch, warum er Beziehungen nach Westernkotten hatte und später hier tätig ist.
1864: 23 Juden in Westernkotten
In einer sog. „Urliste“ aus dem Jahre 1864 sind alle Einwohner Westernkottens aufgelistet. Insgesamt zählt die Liste auf 50 Seiten 1247 Dorfbewohner auf. Sie gehören zu 281 Familien bzw. Wohnparteien. Von den 1247 Einwohnern sind 1212 katholisch, 12 evangelisch und 23 Juden.
Die 23 jüdischen Einwohner verteilen sich auf 4 Familien:
- Witwe Levy Stein und ihr Sohn Leser wohnten im Haus der Familie Joh. Schäfermeyer, HausNr. 34, heute Aspenstraße 10
- Händler Leser Weinberg und seine Frau Lisette, geb. Windmüller, mit den Kindern Sophia, Johanna, Sina, Albert, Rosalie, Emma sowie der Händler Joseph Stein, Haus-Nr. 168, heute Aspenstraße 1
- Händler Aron Weinberg (Witwer) mit seinen Kindern Abraham, Levy, Sophia, Leser und Nettchen, Haus-Nr. 171, heute Osterbachstr. 4
- Witwe Händler Abraham Halle mit den Kindern Benjamin, Isaac, Bertha, Joseph und Friederike, Haus-Nr. 187, heute Alter Markt 3.
Auffällig ist, dass alle jüdischen Familien nah beieinander und in unmittelbarer Nähe zum Alten Markt (heute geöffneter Osterbach in der Ortsmitte) wohnten.
1996: Eine Gedenktafel erinnert an das Schicksal der jüdischen Mitbürger
Am Sonntag, dem 10. November 1996, fand um 15 Uhr im Paul-Gerhardt-Haus eine ökumenische Gedenkfeier mit Vertretern der evangelischen und katholischen Kirchengemeinden sowie der Vereine und Gruppen des Ortes statt. Besonderer Gast war Herr Shmuel Rubens von der jüdischen Kultusgemeinde Paderborn. In dieser Gedenkfeier am Jahrestag der Reichspogromnacht 1938, als in ganz Deutschland die Synagogen brannten und die jüdischen Geschäfte zerstört wurden, hielt Herr Rubens eine kurze Ansprache. Für die musikalische Umrahmung sorgten Daniel Ahrens, Lippstadt (Geige), und Claudia Mintert (Querflöte). Nach der Gedenkfeier fand ein Schweigemarsch zum Alten Markt statt, wo am heutigen Haus Gockel eine Gedenktafel enthüllt wurde.
Der Patriot berichtet wie folgt von der Feierstunde [Patriot 12.11.1996]:
„Diese Tafel ist ein schweigendes Zeugnis für hunderte von Juden, die einst mit Ihnen in Harmonie gelebt haben.“ Shmuel Rubens von der jüdischen Kultusgemeinde aus Paderborn rief die Bürger von Bad Westernkotten am Sonntag dazu auf, sich auf Zeiten zu besinnen, an denen Juden und Nicht-Juden im Ort friedlich zusammengelebt hätten. Anlass war die Enthüllung einer Gedenktafel am Markt aus Anlass des Jahrestages der Reichspogromnacht.
Das kleine Haus mit der Hausnummer 3 wirkt eher unscheinbar. Am Sonntagnachmittag wurde es für rund 80 evangelische und katholische Christen zum Ziel eines Schweigemarsches. Die bronzene Gedenktafel, die dort von Shmuel Rubens sowie den Pfarrern Wolfgang Jäger von der Evangelischen Kirchengemeinde und Heinz Müller von der Katholischen Kirchengemeinde enthüllt wurde, erinnert mit ihrer Inschrift und dem Davidstern an die letzte jüdische Familie, die vor dem Zweiten Weltkrieg in Westernkotten lebte. 1938 flüchtete sie aus Furcht vor dem Nazi-Terror nach Köln, später in die Niederlande. Doch die Mitglieder der Familie entkamen der Vernichtungsmaschinerie nicht und wurden von den Deutschen ermordet.
„Es ist ein trauriger und bedenkenswerter Anlass, der uns heute zusammenführt“, brachte es Pastor Wolfgang Jäger zu Beginn der Gedenkveranstaltung im Paul-Gerhardt-Haus auf den Punkt. Insgesamt hätten im 19. Jahrhundert drei jüdische Familien rund um den Alten Markt gelebt. Die Familie Ostheimer, die zuletzt flüchtete, habe ein kleines Textilgeschäft unterhalten. Im Dorf sei sie angesehen und geachtet worden, wie Pastor Walter Schütte und Albert Richter aus ihren Kindheitserinnerungen zu Berichten wussten. Pastor Schütte: „Die Bevölkerung hatte ein gutes Verhältnis zu den Juden. Es wurde offen über die gegensätzlichen Riten und Bräuche gesprochen.“ Vor allem die Kinder hätten keinerlei Unterschiede im Umgang miteinander gemacht.
Shmuel Rubens von der aus 40 Mitgliedern bestehenden jüdischen Kultusgemeinde betonte, der Gedenkstein diene als eine Art „Gedächtnisstütze“. So erinnerte er daran, dass Jahrzehnte vor dem Holocaust Generationen von Christen und Juden trotz unüberwindbarer Unterschiede, Hungerjahren und Arbeitslosigkeit gut miteinander ausgekommen seien. Diese historische Tatsache müsse Vorbild und Maßstab für das Zusammenleben mit Menschen fremder Völker in der Zukunft darstellen, mahnte Rubens.
Besinnlich gestalteten sich die musikalischen Darbietungen von Daniel Ahrens (Geige) und Claudia Mintert (Querflöte), wie auch die Gebete und Texte, die an das Leben der Juden in Deutschland erinnerten. Vize-Bürgermeister Wolfgang Marcus, der als stellvertretender Vorsitzender der Westernkötter Heimatfreunde die Aktion nach umfangreichen Recherchen initiiert hatte, dankte abschließend allen Beteiligten für die Durchführung der Gedenkveranstaltung.“
Text der Inschrift zur Erinnerung an die Vernichtung der Juden aus Bad Westernkotten
Der Text der Bronzetafel, die oben von einem Davidsstern geprägt ist, lautet: „An dieser Stelle stand das Haus der letzten Juden aus Bad Westernkotten, der fünfköpfigen Familie Ostheimer, vormals Halle, die hier ein Textilgeschäft unterhielt. Die Familie musste 1938 nach Köln umziehen, nachdem die Nationalsozialisten ihr die Ausübung des Geschäfts untersagt hatten. Von Köln flohen die Ostheimers vor dem braunen Terror in die Niederlande, sind aber der Vernichtung durch die Nationalsozialisten nicht entgangen. Im 19. Jahrhundert gab es fast durchgängig drei jüdische Familien in Westernkotten. Sie wohnten alle im Nahbereich des alten Marktes, und zwar in der Osterbachstraße 4, in der Aspenstraße 1 und hier, Alter Markt 3. Wir werden alles tun, damit nie wieder Menschen in unserem Ort aus religiösen und rassistischen Gründen benachteiligt, verfolgt, vertrieben und getötet werden. – Bad Westernkotten, am 9.11.1996 zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938. – Die Bürgerinnen und Bürger von Bad Westernkotten“